Muensters Fall - Roman
bestechend«, sagte sie. »Aber ich bin noch nicht richtig wach.«
»Es gibt so viele Muster«, fuhr Van Veeteren fort. »Wir bekommen so viele Informationen, die in der Alltagshetze einfach an uns vorbeirauschen. Tausend Kilo Stimulanz in der Sekunde. Das können wir gar nicht verarbeiten. Das hier sind Selbstverständlichkeiten, aber das Einzige, was ich eigentlich begreife, sind ja Selbstverständlichkeiten ... das muss man nur mal zugeben.«
»Träume?«, warf Ulrike Fremdli ein.
»Zum Beispiel. Verdammt! Ein Dolch, der über Kommissar Münster schwebt! Du willst doch nicht etwa behaupten, dass das ein Zufall ist? Er ist in Gefahr, ganz klar, das kann doch ein kleines Kind sehen.«
»Aber du hast geglaubt, es wäre Erich«, bemerkte Ulrike Fremdli.
Van Veeteren seufzte.
»Erich war in der Gefahrenzone, solange ich denken kann«, sagte er. »Das wäre keine besonders große Neuheit.«
»Wie alt ist er?«
Van Veeteren war gezwungen nachzudenken.
»Sechsundzwanzig«, sagte er. »So langsam sollte ich aufhören, mir seinetwegen Sorgen zu machen.«
Ulrike schüttelte den Kopf.
»Warum solltest du das?«, fragte sie. »Das eigene Kind bleibt immer das eigene Kind. Und wenn es hundert wird.«
Van Veeteren betrachtete sie eine Weile schweigend. Spürte ihre warmen Fußsohlen an seinem Bein. Mein Gott, dachte er. Diese Frau ...
Es war erst das vierte oder fünfte Mal, dass sie eine ganze Nacht zusammen verbrachten, und jetzt, wie auch bei den früheren Gelegenheiten, musste er sich einfach fragen, warum es nicht etwas häufiger passierte. Nach allem zu urteilen, setzte
er sie ja nicht gerade größeren Qualen aus. Was gab es also für einen Grund, so verdammt vorsichtig zu sein? Anmaßend wie ein Eremit. Störrisch wie ein Esel. Was ihn betraf ... ja, was ihn betraf, so litt er ja in gar keiner Weise, ganz und gar nicht.
Er schaute aus dem Fenster auf den mindestens genauso unschlüssigen Neujahrstag. In der Nacht hatte es geregnet, und Himmel und Erde schienen sich zu einem blaugrauen Licht zu vereinen, das sicher der Dunkelheit nicht lange standhalten würde. Man konnte glauben, die Sonne wäre irgendwann im November verlöscht. Er konnte sich zumindest nicht daran erinnern, sie seitdem gesehen zu haben.
»Prachtwetter«, sagte er. »Wollen wir noch eine Weile ins Bett gehen?«
»Eine gute Idee«, stimmte Ulrike Fremdli zu.
Als sie das nächste Mal aufwachten, war es zwei.
»Wann kommen deine Kinder?«, fragte er erschrocken.
»Heute Abend«, sagte sie. »Die beißen nicht.«
»Meine Sorgen gelten ausschließlich ihnen«, sagte Van Veeteren und richtete sich auf. »Ich will ihnen keinen Schock versetzen, nicht als erste Tat im neuen Jahr.«
Ulrike Fremdli drückte ihn zurück ins Bett.
»Du bleibst hier«, sagte sie. »Schließlich sind alle beide erwachsen und längst flügge geworden ... und haben schon so einiges mitgemacht.«
Van Veeteren dachte nach.
»Warum sollten wir den Alltag leben, wenn wir nur Sonntage haben können?«, fragte er listig.
Ulrike Fremdli runzelte die Stirn und setzte sich rittlings auf ihn.
»Glaube ja nicht, dass ich es so eilig habe«, sagte sie. »Aber ein Sonntag jeden zweiten Monat, das ist nun wirklich nicht genug.«
Van Veeteren streckte die Hände aus und ließ ihre schweren Brüste darin ruhen.
»Kann sein«, sagte er. »All right, ich bleibe also. Schließlich
werde ich bald sechzig, da ist es wohl an der Zeit, ein wenig zur Ruhe zu kommen.«
»Das Jahr fängt ja gut an«, sagte Ulrike Fremdli.
»Könnte schlechter sein«, sagte Van Veeteren.
Aber während er im Bett lag und darauf wartete, dass sie unter der Dusche fertig war, wanderten seine Gedanken zurück zu dem nächtlichen Traum.
Erich? dachte er. Münster? Kommissar Münster?
Is this a dagger that I see before me?
Unbegreiflich.
Zumindest für jemanden, der normalerweise einen selbstverständlichen Bruchteil zu verstehen pflegte.
31
»Frohes neues Jahr«, sagte Polizeipräsident Hiller und rückte seinen Schlips zurecht. »Schön, Reinhart wieder bei uns zu sehen. Wir hoffen, dass die lange freie Zeit gut getan hat.«
»Danke, ja«, sagte Reinhart. »Doch, es war ganz erträglich. Aber ich begreife nicht, warum ich mich auch noch um diesen Fall kümmern soll. Ihr wirkt doch eigentlich vollzählig. Oder könnte es sein, dass ihr euch festgefahren habt?«
»Hm«, sagte Hiller. »Ich glaube, wir überlassen es Kommissar Münster, zu berichten, wie es sich mit der Sache
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