Muensters Fall - Roman
Rügers Bar am Wiijsenweg schräg gegenüber der Kirche niedergelassen. Moreno hatte sofort Sympathie für diese Frau empfunden, die laut eigenen Angaben einen Tag von ihrer Arbeit in der Bibliothek Linzhuisen freigenommen hatte, um an der Beerdigung teilnehmen zu können. Ihre Beziehung zu Marie-Louise Leverkuhn war nicht besonders eng. Lene Bauers Mutter und Frau Leverkuhn waren Cousinen gewesen, aber in den letzten zwanzig, fünfundzwanzig Jahren hatten sie insgesamt keinen großen Kontakt gehabt.
Dennoch hatte Lene Bauer natürlich die Sache in den Zeitungen und im Fernsehen verfolgt, und es hatte auch ein paar Jahre in den Sechzigern gegeben, wo sie wirklich engeren Kontakt miteinander gehabt hatten.
»Die Sommerferien am Meer«, erklärte sie. »In Lejnice, Oosterbrügge und so. Es war billiger, wenn man sich zusammentat, nehme ich an. Meine Mutter und Marie-Louise und dann wir Kinder. Ich und Ruth, Irene und Mauritz ... aber meistens habe ich mit Ruth gespielt, wir waren ja genau im gleichen Alter. Die Väter, meiner und Waldemar, kamen nur abends und übers Wochenende raus ... ja, so ungefähr ist es gelaufen.«
»Sie haben hinterher nicht mehr den Kontakt mit den Kindern aufrechterhalten?«, fragte Moreno.
»Nein«, bestätigte Lene Bauer und sah ein wenig schuldbewusst aus. »Ein paar Briefe an Ruth Anfang der Siebziger, aber ich habe früh geheiratet und hatte andere Dinge im Kopf. Eigene Kinder und so. Außerdem habe ich mehrere Jahre lang in Borghejm gewohnt.«
Moreno dachte nach. Sie nippte an dem Wein, den sie bestellt hatten, und überlegte, wie sie weitermachen sollte. Es schien zweifellos so, als habe diese Frau hier etwas auf dem Herzen,
was sie erzählen wollte, was aber vielleicht nicht ans Tageslicht kommen würde, wenn sie nicht die richtigen Fragen stellte.
Oder war das nur Einbildung? Zweifelhafte weibliche Intuition? Schwer zu sagen.
»Wie gefiel es Ihnen damals in den Sommerferien?«, fragte sie vorsichtig. »Wie oft waren Sie überhaupt zusammen weg?«
»Drei oder vier Mal«, sagte Lene Bauer. »Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Jedes Mal ein paar Wochen. Ich war jedenfalls zwischen zehn und fünfzehn. Wir haben die Beatles gehört, Ruth hatte ein Tonbandgerät. Doch, es gefiel mir ganz gut, abgesehen von Mauritz.«
»Ach?«, sagte Moreno und wartete.
Lene Bauer trank ein wenig Wein und zögerte eine Weile, bevor sie fortfuhr.
»Er war so schrecklich anhänglich«, sagte sie. »Eigentlich hätte er einem Leid tun müssen, als einziger Junge zwischen drei Mädchen. Und dann auch noch jünger, aber es war einfach nicht auszuhalten, wie er sich an seine Schwestern klammerte, vor allem an Irene. Sie hatte keine Sekunde Ruhe vor ihm, und sie wehrte sich auch nie. Tobte mit ihm herum, baute ihm eine Sandburg, malte Bilder und las ihm Märchen vor, wenn er abends einschlafen sollte. Stundenlang ... Ruth und ich, wir hielten uns etwas abseits und überließen Irene die Verantwortung, aber ich weiß, dass ich so meine Probleme mit Mauritz hatte. Und nie haben sie ihm etwas gesagt, und nie war er auch nur ein bisschen dankbar. Eine Nervensäge und Heulsuse war er ganz einfach.«
»Hm«, sagte Moreno. »Und das wollten Sie mir erzählen, nicht wahr?«
Lene Bauer zuckte leicht mit den Schultern.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich musste jetzt einfach wieder an sie denken, als ich von diesen schrecklichen Geschehnissen gehört habe. Ich konnte es gar nicht fassen.«
»Natürlich«, sagte Moreno. »Ich nehme an, dass es ein Schock für Sie war.«
»Zwei«, korrigierte Lene Bauer. »Zuerst der Mord. Und
dann, dass sie es war, die es getan hat. Sie muss ihn ja sehr gehasst haben.«
Moreno nickte.
»Höchstwahrscheinlich. Hatten Sie eine Vorstellung von ihrem Verhältnis zueinander? Ich meine damals, vor dreißig Jahren?«
»Nein«, sagte Lene Bauer. »Ich habe jetzt im Nachhinein darüber nachgedacht, aber damals war ich ja noch ein Kind. Ich hatte keine Begriffe für solche Sachen, und außerdem habe ich Waldemar kaum zu Gesicht bekommen. Er tauchte nur ein paar Mal dort draußen auf ... nein, ich weiß es wirklich nicht.«
»Sie erinnern sich in erster Linie an die Kinder?«
Lene Bauer seufzte und holte eine Zigarette aus ihrer Handtasche hervor.
»Ja. Und dann an Irenes Unglück. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, als müsste das zusammenhängen. Ihr übergroßes Schutzbedürfnis Mauritz gegenüber und ihre Krankheit, meine ich ... da stimmte irgendwas nicht,
Weitere Kostenlose Bücher