Muensters Fall - Roman
als er später etwas
zögerlich versucht hatte, mit ihr Kontakt aufzunehmen, war sie bereits eingeschlafen gewesen.
Oder hatte so getan, als würde sie schlafen, das konnte er nicht genau sagen. Er selbst hatte bis nach zwei Uhr wach gelegen und sich schlecht gefühlt, und als er endlich einschlief, träumte er auch noch von Ewa Moreno. Es war wie verhext.
Geht es zu Ende?, überlegte Münster, als er ins Hochland bei Wissbork gekommen war. Lief es so ab, wenn man sich auseinander lebte?
Er wusste es nicht. Wie, zum Teufel, sollte er es auch wissen?
Man hat nur sein eigenes Leben, dachte er. Nur dieses eine. Alle Vergleiche sind willkürlich und neunmalklug. Synn war einmalig, er selbst war einmalig, ihre Familien und ihre Beziehungen ebenso. Es gab keine Richtlinien. Nichts, wonach man sich richten konnte. Nur Gefühle und Intuition. Zum Teufel auch.
Ich will es gar nicht wissen, dachte er plötzlich. Will gar nicht wissen, was die Zukunft bringt. Besser, man ist einfach blind und hofft auf das Beste.
Aber in einer Sache hatte Synn auf jeden Fall Recht, das konnte sogar ein erschöpfter Kriminalkommissar erkennen. So wie jetzt konnte es einfach nicht weitergehen. Weder ihr Leben noch das Leben der anderen. Wenn es nicht gelänge, die Bedingungen zu verändern, etwas Radikales mit den Umständen und Zuständen zu machen, dann war es ... ja, dann war es, als säße man in einem Zug, der sich langsam, aber unerbittlich seiner Endstation näherte, wo man nur noch aussteigen und jeder seiner Wege gehen konnte. Ob man nun wollte oder nicht.
Hat sie genauso ein schlechtes Gewissen wie ich?, überlegte er in einem hastigen, unsicheren Moment.
Oder war dieser Aspekt auch von den Geschlechterrollen bestimmt? War es vielleicht auch ein Hieb gegen sein bohrendes schlechtes Gewissen, wenn man es einmal näher betrachtete: diese ruhige, weibliche Sicherheit, die offenbar durch nichts zu erschüttern war und die er nie begreifen würde.
Die er jedoch liebte.
Hol’s der Teufel, dachte Münster. Je mehr ich darüber grüble, umso weniger begreife ich.
Er war mehr als hundert Kilometer gefahren, bevor er seine Gedanken seinem Job und seinem Vorhaben zuwandte.
Dem Fall Leverkuhn.
Dem Fall Leverkuhn – Bonger – Van Eck.
Er rechnete nach und kam zu dem Schluss, dass es jetzt mehr als zehn Wochen her war, seit er sich damit befasste. Zwar hatten die Ermittlungen den größten Teil der Zeit geruht, wenn man ehrlich war, während Frau Leverkuhn in Untersuchungshaft saß und solange man nicht die geringste Spur von Else Van Eck gefunden hatte.
Aber dann hatten sich die Ereignisse in der Woche vor Weihnachten wieder überschlagen. Marie-Louise Leverkuhns Selbstmord und der Fund draußen in Weylers Wald.
Als hätte alles nur darauf gewartet, ihm seinen Weihnachtsurlaub zu sabotieren, stellte er mit düsteren Gedanken fest. Und ihm damit die Chance zu nehmen, diesen verfluchten Niedergang im Privaten zu stoppen. Sicher, es waren danach noch andere Dinge aufgetaucht – alles Zeitungsenten, wie Rooth es ausgedrückt hatte.
Diese Tagebuchhinweise zum Beispiel. Gegeben hatte es sie jedenfalls, die Tagebücher, die Sache war klar, aber ob er wirklich irgendwann erfahren würde, was in ihnen gestanden hatte (falls es überhaupt etwas von Wert gewesen war), ja, das war vermutlich eine vermessene Hoffnung.
Dann dieser Bericht dieser weitläufigen Verwandten, um ein anderes Beispiel zu nehmen. Über die Familienverhältnisse draußen am Meer in ein paar Sommerwochen in den Sechzigern. Was hatte der eigentlich für eine Bedeutung?
Oder das gestrige Gespräch mit Reinhart. Ohne wirklich intensiv in die Ermittlungen eingebunden zu sein, schien er die gleichen Gedankengänge wie Münster zu verfolgen, aber vielleicht war auch gar nichts anderes zu erwarten gewesen. Reinhart hatte schon oft mehr Durchblick als die meisten gezeigt.
Und dann das Gespräch mit der ganz und gar nicht charmanten Ruth Leverkuhn nach der Beerdigung. Sicher, es hatte nicht viel gebracht. Schade, dass er noch nicht gewusst hatte, was Lene Bauer erzählen würde, als er die Tochter gesprochen hatte. Es wäre zumindest interessant gewesen, ihren Kommentar dazu zu hören.
Doch, es gab zweifellos einige Durchbrüche.
Oder Fallgruben, wenn man sich Rooths Pessimismus anschließen wollte.
Apropos Durchbrüche, auch das Gespräch mit Van Veeteren am gestrigen Abend ging ihm nicht aus dem Sinn. Der Hauptkommissar hatte gegen neun Uhr angerufen, um sich
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