Mueslimaedchen - mein Trauma vom gesunden Leben
darauf herumtrampelten. Anders als damals bei Leonie zählte für Annemie offenbar nur der Inhalt, und ich freute mich schon auf ihr Gesicht, wenn sie das Prinzessinnen-Kostüm sehen würde.
Doch meine Erwartungen wurden enttäuscht. Annemie schwang ein paar Mal den Zauberstab durch die Luft, warf dann alles in die Ecke und riss die Verpackung des nächsten Geschenks auf. Beleidigt rettete ich die Feenflügel vor den Wollmäusen, schlüpfte hinein und setzte mir die Krone auf. In das Tüllkleid passte ich leider nicht. Dann setzte ich mich auf das Sofa und aß die ganze Packung Kinderschokolade auf. Irgendwann kam Annemies Mutter und setzte sich neben mich.
»Mach dir nichts draus«, sagte sie. »Sie ist jetzt in der Pferdephase. Rosa interessiert sie nicht mehr. Ihre kleine Schwester steht übrigens total auf Captain Sharky, die fand rosa nie toll.«
Liebe Feministinnen, habt ihr das gehört? Es gibt verschiedene Phasen im Leben eines Kindes. Die Rosa-Phase, die Pferde-Phase, die Piraten-Phase und noch viele andere. Eine Phase zeichnet sich dadurch aus, dass sie vorübergeht. Also kein Grund zur Sorge.
Später, beim Verabschieden, umarmte mich Annemie und flüsterte mir ins Ohr: »Du kannst die Krone behalten, ich hab schon eine.«
Ich verkniff mir zu sagen, dass man Geschenke eigentlich behält, bedankte mich und fuhr gerührt nach Hause. Endlich hatte ich auch mal eine Krone! Mittlerweile rufe ich vor Geburtstagen immer an und frage nach, in welcher Phase Annemie sich gerade befindet. Hoffentlich dauert es noch eine Weile, bis sie sich für Jungs interessiert.
7 Das Müslimädchen besucht seine Oma
und übt sich in reinen Gedanken.
Äpfel werden verspeist und Köpfe rollen.
In den Herbstferien, ich war zwölfeinhalb und hatte ständig Angst, etwas zu verpassen, erlernte ich die Kunst des Pendelns. Es war ein goldener Oktober, und auch wenn die Nächte kühl waren, konnte man tagsüber noch im T-Shirt in der Sonne Eis essen und mit dem Fahrrad Ausflüge an den Baggersee machen. Das hätte ich zumindest gerne getan, doch meine Mutter wollte, dass ich Oma besuche.
Wenn es Oma und Opa Schwarzwald gewesen wären, okay. Denn dort gab es Fernsehen, Fürst-Pückler-Eis, Scheiblettenkäse und Mini-Sahne-Windbeutel von Bofrost. Aber meine Mutter meinte Oma Stuttgart, die auch ein Recht auf ihr Enkelkind hatte, und so setzte sie mich kurzerhand in den Regionalexpress.
Schon als ich die drei Stufen aus dem Zug hinunterkletterte, sah ich, wie mir Oma Stuttgart aus dem Gewusel der wartenden, ankommenden, abreisenden, sich begrüßenden und verabschiedenden Menschen heraus zuwinkte. Neben ihr stand ihr Mercedes. Ein knallrotes Cabriolet aus den Fünfzigern , auf das sie sehr stolz war und mit dem sie mehrere Stofftaschen transportierte, die prall gefüllt und mit Grasflecken übersät waren. Was sie Mercedes nannte war eigentlich nur ein ausgedienter Kinderwagen mit großen Rädern, aber Oma hätte niemals eines dieser Hinterziehwägelchen benutzt, die heute Hackenporsche heißen. Das war nur was für alte Leute.
Als Oma mich in die Arme schloss, stieg mir ihr vertrauter Apfelduft in die Nase. Wenn sie nicht gerade Äpfel aß, verarbeitete sie diese zu Kuchen, Kompott oder Pfannkuchen. Sie besaß fünf Baumwiesen im Stuttgarter Umland, die wir Enkelkinder einmal erben sollten. Falls wieder einmal schlechte Zeiten kämen. Oma hatte Ahnung von schlechten Zeiten, oh ja, denn sie hatte den Krieg erlebt und jahrelang so wenig zu essen gehabt, dass sie erst mit Anfang zwanzig ihre Regel bekommen hatte. Seither lebte sie in der ständigen Angst zu verhungern.
Einmal im Jahr fuhr die ganze Familie auf eine der Wiesen, Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins. Die Erwachsenen sammelten das Fallobst vom Boden auf und wir Kinder kletterten in die Bäume und angelten mit Obstpflückern nach den ganz oben hängenden Äpfeln. Die Pflücker hatten einen langen Stiel, an dessen Ende ein Metallrahmen mit weichen Kronzacken befestigt war und einen Auffangbeutel aus Stoff, und jedes Mal wenn sich ein Apfel vom Zweig löste und hineinfiel, machte es »plopp«. Am Ende stritten wir darum, wer welche Sorte bekam, und immer fühlte sich jemand ungerecht behandelt.
»Du bist ja nicht gerade zurückhaltend, was die Gravensteiner angeht«, sagte Tante Hiltrud zu Tante Inge, die gerade ihren Kofferraum vollpackte.
»Ja und? Du magst die doch eh nicht.«
»Sagt wer?«
»Du.«
»Das ist mir allerdings neu!«
Tante Hiltrud war beleidigt. Und
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