Muetter ohne Liebe
Bedeutung für sie selbst von Interesse, und wird weder als eigenständiges Wesen wahrgenommen noch in seiner Eigenart anerkannt und gewürdigt. Autonomiestrebungen werden hier im Gegenteil unterbunden, bestraft oder mit der Erzeugung von Schuldgefühlen belastet. Diese Mutter ist nämlich dringend auf ihr Kind und seine Verfügbarkeit angewiesen. Darum ist sie bestrebt, ein Verhältnis der Abhängigkeit und Kontrolle aufrechtzuerhalten. Das unterscheidet sie von der zuvor beschriebenen distanzierten, ablehnenden Mutter, die ihr Kind vor allem als belastend und eigentlich überflüssig erlebt. Dennoch gibt es Parallelen und Überschneidungen. In beiden Fällen sind die Person des Kindes, seine Bedürfnisse und Interessen für die Mutter nicht interessant oder relevant. Die Mutter verfügt über das Kind gemäß ihren eigenen Interessen. Entspricht das Kind den Erwartungen der emotional ausbeutenden Mutter nicht, kann sie blitzschnell zu einer kalten, ablehnenden Mutter werden oder auch zu einer aktiv Gewalt ausübenden Mutter, wie wir sie später noch kennen lernen werden.
Der narzisstische Missbrauch
Die Mutter liebt ihr Kind nicht so, wie es ist, sondern sie liebt ihr inneres Bild von ihm. Dessen Vorgaben muss das Kind realisieren, um «geliebt» zu werden, ob sie ihm entsprechen oder nicht. Violette Leduc, eine französische Schriftstellerin, die mit ihrer Mutter und mit ihrer Großmutter aufwuchs, schreibt in ihrem autobiografischen Roman «Die Bastardin»:
Meine Mutter und meine Großmutter sind intelligent, sie besitzen Persönlichkeit, sie waren erdrückt worden, eine und die andere […] Der Stadtpark, in dem sie mich spazieren führen, ist Arena, ich bin ihr kleiner Torero, ich muss die reichen Kinder der Stadt besiegen […] ich muss rivalisieren in Gepflegtheit […] in Roben mit Stickereien […] in hellem Teint, in seidigem Haar. (Aus: Leduc, S. 26)
Ein «Herzeigekind» soll die Bedürfnisse der Mutter nach Anerkennung, Bewunderung und Bestätigung durch die Umwelt erfüllen und damit deren Selbstwert heben. Das Kind der narzisstisch ausbeutenden Mutter ist dazu ausersehen, ihre unerfüllten Träume von Ehrgeiz und Erfolg zu verwirklichen. Ob es nun Schönheitskönigin, Sportstar, Akademiker/in oder sonst etwas «Besonderes» sein soll – es soll auf jeden Fall bestimmte Ambitionen der Mutter erfüllen und für sie etwas erreichen: Stellung, Prestige, Ruhm oder Geld. So wird das Kind im Allgemeinen früh dazu angehalten, zentrale Werte im Hinblick auf Leistung und Prestige zu übernehmen und zum Perfektionismus hin erzogen, was Leistungen, Benehmen und das Erscheinungsbild betrifft.
4.1 Merkmale und Eigenschaften
In der alltäglichen Wirklichkeit sind folgende Kennzeichen einer ausbeutenden, emotional missbrauchenden Mutter-Kind-Beziehung zu beobachten:
• die Pseudo-Nähe zwischen Mutter und Kind
• ein Autonomie- und Individuationsverbot für das Kind
• Manipulation und Kontrolle als Mittel zu Anpassung und Loyalität.
4.1.1 Pseudo-Nähe
Die Zuwendung der Mutter gilt nicht wirklich ihrem Kind, sondern dem Ideal, das sie auf es projiziert. Sie erwartet ein bestimmtes Verhalten und ihre Zuneigung ist davon abhängig, inwieweit das Kind ihren Vorstellungen und Erwartungen entspricht.
Ich war ein reines Marktwertprodukt […] Ich habe nie Liebesbezeugungen bekommen. Nur wenn ich gute Noten gebracht habe, war ich brav.
Die Liebe meiner Mutter konnte ich nur bekommen, wenn ich tüchtig, verständnisvoll, beherrscht war und ihr Handeln nie in Frage stellte. Das hätte sich gegen mich gekehrt.
Ich wurde ausschließlich gemessen am schulischen Erfolg.
Diese Zitate drücken typische Erfahrungen betroffener Kinder aus. Die Mutter hält an einem idealisierten Bild des Kindes fest, dem dieses aufgrund seiner tatsächlichen Unvollkommenheit und realen Persönlichkeit zwangsläufig nicht zu entsprechen vermag. In diesem Fall aber kann die «besonders hingebungsvolle» Mutter plötzlich zu einer offenkundig lieblosen Mutter werden, die verbal oder körperlich gewalttätig wird oder deren Verhalten durch Kälte, Gleichgültigkeit und Rückzug gekennzeichnet ist.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen Fall aus meiner Praxis: Eine Mutter meldete telefonisch ihre 24-jährige Tochter bei mir zur Sprechstunde an. Ihr erster Satz bezüglich ihrer Tochter Eva war: «Meine Tochter ist hochbegabt.» Dann kam: «Aber nun ist ihr Studium in Gefahr.» Die Tochter habe «irgendwelche
Weitere Kostenlose Bücher