Mummenschanz
Magnum«, sagte sie. »Und ich bin durchaus bereit, sie zu trinken!«
Die Gestalt verharrte. »Oh, du bist’s, Frau Ogg…«
Nannys unfehlbares Gedächtnis lieferte sofort die Einzelheiten des betreffenden Individuums. »Peter, nicht wahr?« Sie entspannte sich. »Der mit den schmerzenden Füßen, stimmt’s?«
»Ja, Frau Ogg.«
»Wirkt das Puder, das ich dir gegeben habe?«
»Es geht mir jetzt viel besser, Frau Ogg…«
»Was ist hier los?«
»Herr Salzella hat den Geist gefangen!«
»Tatsächlich?«
Nannys Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit. Sie erkannte so etwas wie Ordnung in dem Chaos. Beim Kronleuchter hatte sich eine Gruppe gebildet.
Salzella saß auf dem Holzboden. Sein Kragen war zerrissen, und ihm fehlte ein Ärmel, aber in seinen Augen leuchtete es triumphierend.
Er hob etwas und winkte damit.
Das Objekt war weiß und wirkte wie der Teil eines Schädels.
»Plinge!« sagte er. »Walter Plinge steckt dahinter! Ihm nach!«
»Walter?« erwiderte einer der Männer ungläubig.
»Ja, Walter .«
Ein anderer Mann eilte herbei und schwang seine Laterne.
»Ich habe gesehen, wie der Geist zum Dach gerannt ist! Und ein einäugiger Bursche folgt ihm wie eine übergeschnappte Katze!«
Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu, dachte Nanny.
»Zum Dach!« rief Salzella.
»Sollten wir uns nicht vorher lodernde Fackeln besorgen?«
»Die sind nicht obligatorisch!«
»Wie wär’s mit Heugabeln und Sensen?«
»Braucht man nur bei Vampiren!«
»Und wenn wir wenigstens eine Fackel mitnehmen?«
»Aufs Dach, und zwar sofort, verstanden?«
Der Vorhang fiel. Hier und dort erklang Applaus, aber er verlor sich im allgemeinen Schnattern der Stimmen.
Die Chorsänger wandten sich einander zu. »Gehörte das dazu?«
Staub rieselte herab. Bühnenarbeiter kletterten weit oben über Balken und Gerüststangen. Dumpfe Echos hallten von hochgezogenen Kulissen wider. Jemand eilte mit einer brennenden Fackel auf die Bühne.
»He, was geht hier vor?« fragte ein Tenor.
»Sie haben den Geist aufgestöbert! Der Bursche flieht zum Dach! Es ist Walter Plinge !«
»Was, Walter?«
» Unser Walter Plinge?«
»Ja!«
Der Mann sauste in einem Funkenregen davon und hinterließ die Hefe des Gerüchts, die sofort den Teig des Chors aufgehen ließ.
»Walter? Ausgeschlossen!«
»Nuuun… er ist ein bißchen seltsam, nicht wahr?«
»Aber erst heute morgen hat er zu mir gesagt: Es ist ein schöner Tag, Herr Sidney. War ganz normal. Ich meine, normal für Walter…«
»Um ganz ehrlich zu sein… Mir erschien es immer sonderbar, daß sich seine Augen unabhängig voneinander bewegen…«
»Und er ist ständig anwesend!«
»Ja, aber er erledigt hier alles…«
»Auch Leute!«
»Es ist nicht Walter«, sagte Agnes.
Alle sahen sie an.
»Eben haben wir gehört, daß man ihn verfolgt, Teuerste.«
»Ich habe keine Ahnung, wer verfolgt wird, aber eins steht fest: Walter ist nicht der Geist. Wieso glaubt ihr eigentlich, daß er der Geist sein könnte?« entfuhr es Agnes scharf. »Er könnte nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun! Außerdem habe ich beobachtet…«
»Er kam mir immer ein bißchen ölig vor.«
»Und es heißt, daß er oft den Keller aufsucht. Weshalb, frage ich mich. Sehen wir den Tatsachen ins Auge. Er ist verrückt.«
»Er verhält sich nicht wie ein Verrückter!« widersprach Agnes.
»Aber es schien immer, als könnte er jeden Augenblick ausrasten, oder? Ich sehe nach, was jetzt geschieht. Kommt jemand mit?«
Agnes gab auf und stellte sich einer sehr unangenehmen Erkenntnis: Manchmal wird die Vernunft mit Füßen getreten – von den Füßen der Leute, die sehen wollen, was geschieht.
Eine Klappe öffnete sich. Der Geist kletterte aufs Dach, sah nach unten und schloß die Klappe. Darunter erklang dumpfes Heulen.
Er eilte über die Schindeln, bis er die mit Wasserspeiern bestückte Brüstung erreichte. Schwarz und silbern erstreckte sie sich im Mondschein. Der Wind zupfte an seinem dunklen Umhang, als der Geist am Rand des Daches entlanglief und sich neben einer anderen Klappe niederkniete.
Einer der Wasserspeier streckte plötzlich den Arm aus und nahm dem Geist die Maske ab.
Es war, als hätte jemand Schnüre durchgeschnitten.
»Guten Abend, Walter«, sagte Oma, als der junge Mann auf die Knie sank.
»Hallo Fräulein Wetterwachs!«
»Frau«, korrigierte Oma. »Steh auf.«
Irgendwo unter dem Dach ertönte leises Knurren, dann pochte es. Im Mondschein war zu sehen, wie
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