Mundtot nodrm
anzukündigen, bescherte Sander einen neuen Impuls. »Nicht am Telefon«, flüsterte Boris, »sondern morgen Abend um halb sechs auf dem Hohenstaufen.« Noch bevor der Journalist etwas sagen konnte, legte Boris auf. Halb sechs. Das bedeutete jetzt, Mitte Februar, dass die Dämmerung schon einsetzte. Eine ungewöhnliche Zeit. Sander überlegte kurz, doch dann überwog das journalistische Interesse. Wie immer in solchen Fällen, schrieb er den Termin in seinen Tischkalender – zum einen als Gedächtnisstütze, zum anderen aber auch zur Sicherheit, falls ihm unterwegs etwas zustoßen würde. Vertrauliche Termine pflegte er gegenüber den Kollegen zu verschweigen – und auch seine Lebensgefährtin Doris wollte er damit meist nicht beunruhigen.
Der Abend war kühl, der Himmel bewölkt. Noch war es hell, als er seinen Golf am Ende der steil aufsteigenden, bepflasterten Reichsdorfstraße abstellte. Dort, beim Dokumentationszentrum für Staufische Geschichte, führte eine Treppe zwischen Friedhof und der historischen Barbarossakirche zu dem schmalen Waldpfad, der sich an der Südseite des kegelförmigen Berges zu einem Fahrweg hinaufwand. Ihm folgte Sander nach rechts, vorbei an den stark mit Efeu berankten Bäumen, und erreichte nach einer Spitzkehre das Mauerwerk, mit dem der Grundriss der einstigen Stauferburg nachempfunden worden waren. Der breite Weg führte vollends auf die Hochfläche hinauf. Rechts von ihm tauchte die sogenannte Schutzhütte auf – eine Vesperwirtschaft, deren Beton-Architektur den herben Charme eines Bunkers ausstrahlte. Sander hatte kürzlich gelesen, dass die Stadt Göppingen das Gebäude erworben hatte und nun von Grund auf modernisieren wollte. Das ›Jahr der Staufer‹, das gerade erst eingeläutet worden war, hatte die Stadtväter offenbar auch ihren lange Zeit stiefmütterlich behandelten geschichtsträchtigen Berg wieder neu entdecken lassen.
Sander überblickte das Plateau, das von mächtigen Linden dominiert wurde. Langsam machte sich die winterliche Dämmerung bemerkbar. Er sah sich um, doch es schien so, als sei er allein hier oben. Sander ging ein paar Schritte zur westlichen Kante, von der er wusste, dass sie eine grandiose Aussicht bot – von der Alb bis zum Stuttgarter Fernsehturm. Heute Abend jedoch hingen Nebelschwaden an Aichelberg, Boßler und Teck – und auch in Richtung Neckartal verlor sich die diesige Landschaft in monotonem Grau. Der Journalist vergrub seine Hände in der Winterjacke und drehte sich immer wieder um, doch außer den kahlen Bäumen und dem spärlichen Mauerwerk, das Historisches nachbilden sollte, gab es nichts, was ins Auge sprang. Auch auf dem leicht angehobenen östlichen Plateau, das sich hinter der Schutzhütte befand, entdeckte er nichts Auffälliges. Dort ragte die Stele hoch, deren Inschriften auf die glorreiche Staufervergangenheit hinwiesen.
Sander lehnte sich an den mächtigen Holzklotz, auf dem eine Bronzetafel die Entfernungen und Richtungen zu markanten Geländepunkten und Städten anzeigte, und sah die Lichter Göppingens, die aus einer Distanz von knapp zehn Kilometern herauffunkelten. Autoscheinwerfer bewegten sich, Straßenlampen brannten bereits.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, hörte er plötzlich eine Stimme. Er erschrak, drehte sich um und sah den schlaksigen jungen Mann vor sich stehen, der den Kragen seiner schwarzen Jacke hochgestellt hatte.
»Jetzt haben Sie mich aber mächtig erschreckt«, gestand Sander, dessen Blutdruck in die Höhe geschnellt war.
»Das wollte ich nicht.« Boris sprach leise. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie einfach so angerufen hab. Aber nach unserem Gespräch neulich weiß ich, dass Sie nicht gleich alles an die große Glocke hängen.« Er sah jetzt auch in die Landschaft hinaus. Eine unheimliche Stille lag über dem Berg. »Sie haben immerhin Wort gehalten und nicht alles, was wir gesprochen haben, auch gleich geschrieben«, betonte Boris noch einmal. Er zögerte. »Natürlich hätte ich jetzt auch zur Polizei gehen können – aber dann wird alles gleich so offiziell. Vernehmungen, Protokolle und so. Ich kenne das ja inzwischen.«
Sander erwiderte nichts. In solchen Momenten war es wichtig, sein Gegenüber aussprechen zu lassen und sich jedes Wort einzuprägen.
»Sie wissen, dass demnächst hier oben eine große Kundgebung stattfindet«, fuhr der junge Mann fort, während ein schwarzer Vogel an ihnen vorbeiflog. »Als ich mich hier neulich genauer umgesehen hab, ist mir etwas aufgefallen, das
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