Mundtot nodrm
mir seither keine Ruhe lässt.«
Sander war über die Wortwahl überrascht. Beim letzten Gespräch hatte Boris noch häufig Formulierungen aus der Jugendsprache benutzt. Jetzt wirkte er wesentlich erwachsener.
»Ich zeig’s Ihnen«, machte Boris nach kurzer Pause weiter, als von der Straße das Aufheulen eines Motorrads heraufdrang. »Kommen Sie mit.« Der Osthimmel, dem er entgegenging, hatte bereits deutlich an Helligkeit eingebüßt. Sander folgte dem jungen Mann mit einigen Schritten Abstand und beobachtete die Umgebung. Doch es gab außer ihnen beiden noch immer nichts, was sich bewegte. Allerdings, das musste Sander erkennen, wären genügend Verstecke vorhanden gewesen: Die dicken Bäume, die Mauerreste am Rande des Plateaus – und natürlich der Wald, der nahezu überall zur Hochfläche heraufreichte.
Boris verschwand jetzt rechts in dem Gemäuer, das sich etwa mannshoch erhob und dessen tadelloser Zustand nur archäologischen Laien vorgaukeln konnte, es würde sich um Originalreste der Burganlage handeln. Sander sah, dass der junge Mann abwärts stieg. Beim Näherkommen bemerkte er eine Treppe, die eine Etage tiefer in einen ummauerten Bereich führte, mit dem offenbar ein Keller oder ein Verlies angedeutet werden sollte. Boris war bereits dort unten angekommen und wartete im Halbdunkel ungeduldig, bis auch Sander das Treppenende erreicht hatte.
»Hier«, sagte er schließlich und brachte eine Taschenlampe zum Vorschein, die er anknipste und an dem Ziegelwerk der Mauer entlangstreifen ließ. »Das ist ganz neu.« Der kleine Lichtkegel blieb auf mehrere nebeneinanderliegende Bohrlöcher gerichtet.
Sander kam näher, um sie genau sehen zu können.
»Frisch gebohrt«, stellte Boris fest und ließ den Lichtschein auf den Boden darunter fallen. Dorthin war das Steinmehl gerieselt, das die Bohrmaschine aus den Löchern gefördert hatte.
»Das gibt’s an zwei weiteren Stellen auch noch.« Boris machte eine Kopfbewegung, mit der er andeutete, dass er andere Bereiche auf dem Plateau meinte.
Sander fuhr mit den Fingern über die Löcher, deren Ränder rau und brüchig waren. »Und was müssen wir daraus schließen?«
Boris drehte sich um und leuchtete dem Journalisten ins Gesicht, als wolle er dessen Mienenspiel erkunden. »Das überlasse ich Ihnen.« Er wartete vergeblich auf eine Reaktion Sanders. »Ich bin halt auf Hinweise gestoßen, die mich beunruhigt haben. Und ich gebe dies vertraulich an Sie weiter. Verstehen Sie: Vertraulich. Ich will damit nichts zu tun haben.« Er steckte seine Taschenlampe wieder ein.
»Aber woher …?« Sander wollte sich nicht so einfach abspeisen lassen.
Boris machte sich wieder auf den Weg nach oben. »Sehen Sie’s einfach so«, sagte er im Hinaufgehen. »Der Herr gibt’s den Seinen im Schlaf.«
90
Linkohr war die Lust auf Frauen gründlich vergangen – so gründlich, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Dass er vorläufig weiterarbeiten durfte, hatte er einzig und allein der Fürsprache Häberles zu verdanken, dem es gelungen war, Baldachin von Linkohrs beruflichen Qualitäten zu überzeugen. Das letzte Wort aber, so hatte der Direktionsleiter angedroht, sei damit »noch lange nicht gesprochen.«
Der junge Kriminalist war in ein Stimmungstief gefallen. Immer wieder kämpfte er mit dem Gedanken, Sigrid anzurufen – doch die hatte sich nach seinem dienstlich begründeten Aufbruch beim ›Jungen Griechen‹ nicht mehr gemeldet. Nein, entschied er, einen weiteren ›Problemfall‹ konnte er jetzt nicht gebrauchen. Er musste einen deutlichen Strich ziehen und sein Leben neu ordnen. Vielleicht würde er zum Ende der langen Faschingssaison noch irgendwo auswärts eine Tanzveranstaltung aufsuchen. Aber ganz gewiss weit außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs, wo ihn garantiert niemand kannte.
Dass ihn Häberle jetzt dienstlich aufforderte, Kontakt mit Joanna Malinowska aufzunehmen, erschien ihm äußerst suspekt. War dies überhaupt zulässig, nach allem, was geschehen war? Durfte man ihn mit solchen Ermittlungen beauftragen? Er würde ihr niemals mehr gegenüberstehen wollen. Niemals. Und wenn das Video irgendwo im Internet auftauchte, war er wild entschlossen, dagegen mit allen rechtlichen Mitteln vorzugehen – wohl wissend, wie schwierig es sein konnte, etwas von Youtube oder aus irgendwelchen sozialen Netzwerken löschen zu lassen.
Linkohr rief mit der Funktion ›Rufnummer unterdrücken‹ bei Joanna an. Hätte sie sich gemeldet, hätte er sofort wieder
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