Munroys & Makenzies Bd. 1 - Der Ruf der Highlands
von Artair«, gab Mhairie zurück und starrte ins Leere. Sie schien in einer völlig anderen Welt zu sein und hatte kein Wort mehr gesprochen, seit der unheimliche Fremde das Fest gestört hatte. In diesem Augenblick beschlich Lili der Verdacht, dass die alte Frau den Schlüssel zu der unversöhnlichen Feindschaft zwischen den Munroys und den Makenzies zu kennen schien.
»Bringst du mich zu Bett?« Mit dieser Bitte riss Isobel Lili aus ihren Gedanken, und sie war heilfroh darüber. Sie hatte nur noch einen Wunsch: der gespenstischen Feier zu entfliehen. In aller Eile verabschiedete sie sich, doch keiner reagierte. Selbst Mhairie rührte sich nicht.
Lili nahm Isobel an der Hand und war froh, als beide das Kinderzimmer erreichten. Hier schien alles so friedlich zu sein. Isobel hatte müde Augen, zog sich in Windeseile aus und kuschelte sich unter die Decke.
»Liest du mir noch etwas vor?«
»Isobel, es ist drei Uhr morgens, mir fallen selbst schon die Augen zu«, lachte Lili. In diesem Augenblick kam Niall dazu.
»Dad, liest du mir noch etwas vor?«, quengelte Isobel.
»Gut, aber nur eine Seite.«
»Das Buch liegt auf meinem Schreibtisch.«
Niall wollte danach greifen, da entdeckte er das Büchlein mit dem roten Samteinband. Lili beobachtete es aus den Augenwinkeln, aber es war zu spät, das verräterische Tagebuch verschwinden zu lassen. Sie betete, dass es keinen Ärger geben möge. Zu ihrer großen Erleichterung war Isobel bereits vor Erschöpfung eingeschlafen. Lili hätte es kaum ertragen, wenn Niall seiner Tochter Vorwürfe gemacht hätte.
Lili trat neben ihn an den Schreibtisch und legte ihm versöhnlich eine Hand auf die Schulter. Er aber beachtete sie nicht und überflog mit wutverzerrter Miene Isobels Tagebucheintragungen. Wortlos riss er die beschriebenen Seiten heraus, zerfetzte sie und warf sie samt dem Buch, das er vorher vergeblich zu knicken versucht hatte, in den Papierkorb.
Dann ging er zu Isobels Nachttisch, löschte die Lampe und verließ das Zimmer.
Lili, die wie betäubt am Schreibtisch stehen geblieben war, tastete sich durch das dunkle Zimmer bis zur Tür. Als sie mit klopfendem Herzen auf den Flur hinaustrat, hörte sie ihn bereits mit schneidender Stimme fragen: »Hast du mir etwas zu sagen?«
Lili räusperte sich mehrfach verlegen. »Es tut mir leid, dass ich deine Anordnung missachtet habe«, brachte sie heiser hervor. »Aber sie hat mich so lange angebettelt, bis ich ihr das Tagebuch überlassen habe.«
Niall zeigte keinerlei Regung.
»Niall, es ist doch auch kein Verbrechen, Tagebuch zu schreiben. Glaub mir, hätte ich ihr keins geschenkt, sie hätte ein Schulheft genommen«, beschwor sie ihn.
»Das meine ich nicht, Lili. Es ist das, was sie im Tagebuch geschrieben hat, das mich zutiefst verletzt. Du hättest mir sagen müssen, dass sie dir erzählt hat, wie sie Caitlin gefunden hat. Das ist ein Vertrauensbruch! Und wie kommst du dazu, ihr zu versprechen, dass sie mit allem, was sie bewegt, zu dir kommen kann und dass du es mir nicht verraten wirst?«
»So habe ich das doch gar nicht gesagt! Aber findest du es richtig, im Tagebuch deiner Tochter zu lesen und alles zu vernichten, was sie zu Papier gebracht hat?«
»Erklär du mir nicht, was richtig und was falsch ist. Ich fühle mich von dir hintergangen. Gute Nacht.«
Und schon war er fort. Lili konnte es kaum fassen. Niall hatte sie einfach stehen gelassen.
32
Inverness, 1. Januar 1914
Lili blieb eine ganze Weile wie betäubt stehen, bis eine unbändige Wut von ihr Besitz ergriff. Warum tat er immer so, als habe er das Recht für sich gepachtet und sei unfehlbar?
Schnaubend eilte sie in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Seufzend ließ sie das Hogmanay-Fest Revue passieren und versuchte, sich nicht von den unzähligen bösen Vorzeichen schrecken zu lassen. Das war gar nicht so einfach, und vor allem ließ sich der Auftritt des Alten nicht so ohne Weiteres verdrängen. Was, wenn ihr Vater tatsächlich zu jenen Makenzies gehört hatte, die von den Munroys so abgrundtief gehasst wurden? Allein bei dem Gedanken hatte sie das Gefühl, als werde sie von einer schwarzen Wolke eingehüllt.
Lili war so aufgebracht, dass an Schlaf nicht zu denken war. Wie ein wildes Tier im Käfig rannte sie auf und ab, bis sie vor Caitlins Schreibtisch innehielt und ihr Blick auf das Geheimfach fiel. Es war wie ein Sog, als ihre Hand nach dem Schlüssel griff, ihn hervorzog und im Schloss umdrehte. Sie zögerte noch einmal
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