Munroys & Makenzies Bd. 1 - Der Ruf der Highlands
kurz, als sie den braunen Ledereinband verführerisch im Licht der Schreibtischlampe glänzen sah, doch schon hielt sie das Tagebuch in Händen und schlug es rasch auf. Nur eine Seite, nahm sie sich fest vor, als sich ihre Blicke an Caitlins kunstvoll geschwungener Schrift festsogen.
Ullapool, 16. Mai 1908
Seit meiner Jugend habe ich kein Tagebuch mehr geschrieben, aber nun ist kein Mensch da, dem ich mich anvertrauen könnte, denn Dusten hat es wieder einmal von hier fortgezogen. In die weite Welt, wie er mir sagte, um die Enge des Tales eine Weile hinter sich zu lassen. »Aber ich komme zurück«, hat er hoch und heilig versprochen, »wenn ich den Ruf der Highlands vernehme, und der wird mich wie immer in der Ferne erreichen, liebe Caitlin.« Ich könnte mich Großmutter Mhairie anvertrauen, aber das sieht Niall nicht gern. Er behauptet immer, sie sei im Herzen keine echte Munroy. Ich will ihn doch nicht verärgern. Mein Großvater ist friedlich eingeschlafen. Ich habe ihm bis zum Schluss die Hand gehalten. Und ich versuche zu vergessen, was er mir auf seinem Sterbebett mit letzter Kraft mitzuteilen versuchte. Seine Stimme war plötzlich so klar, dass ich mich nicht an ein mögliches Missverständnis klammern kann. Ich bin nicht seine leibliche Enkelin. Er und seine Frau haben meine Mutter adoptiert, aber Großvater wollte nicht sagen, wer ihre Eltern waren. Er sagte, ich fände die Antwort nach seinem Tod in den Papieren. Seit er die Augen für immer geschlossen hat, schleiche ich um seinen Schreibtisch herum. »In der oberen Schublade rechts findest du die Antwort«, hat er gesagt, aber ich traue mich nicht. Ich mache einen Bogen darum wie um einen Giftschrank, der ein tödlich wirkendes Serum enthält. Ich will keine andere sein als Caitlin Boyd. Erst war ich traurig, dass Niall nicht mitkommen konnte und ich mit Bella allein nach Ullapool reisen musste, doch nun bin ich ganz froh. Er hätte längst voller Ungeduld jene Schublade aufgerissen und die Wahrheit ans Licht geholt. Ich vermisse ihn, doch jetzt werde ich meinen ganzen Mut zusammennehmen und meiner Herkunft ins Auge blicken. Was kann mir schon geschehen? Dass meine Mutter – wie auch ich – die uneheliche Tochter eines Fischers war? Das würde Niall nicht daran hindern, mich zu lieben. Er kennt doch meine Geschichte und weiß, dass sich der Mann, der meine Mutter schwängerte, sehr zum Kummer von Großvater Boyd vor der Hochzeit auf ein ausländisches Schiff absetzte. Und Nialls Mutter ist ohnehin nur das eine wichtig: dass ich ihnen endlich einen Baronet gebäre.
An dieser Stelle brachen die Aufzeichnungen ab. Der Rest der Seite war leer. Lilis Herz klopfte zum Zerbersten. Es ist nicht richtig, dass ich diese Zeilen lese, ermahnte sie eine innere Stimme, während eine andere sie geradezu ermutigte, der Wahrheit auf diesem Weg wenigstens ein Stückchen näherzukommen. Caitlin und sie hatten also eines gemeinsam: Sie waren uneheliche Kinder.
Mit zitternden Fingern blätterte Lili auf die nächste Seite und erstarrte. Die Tinte war verlaufen, als hätte Caitlin bittere Tränen vergossen und damit alles verschmiert, doch die Zeilen waren gerade eben noch zu lesen.
Das aufgewühlte graue Wasser des Loch Broom ist ein Spiegelbild meiner Seele. Noch nie war ich so mutlos. Ich sitze im nassen Sand am Strand und kann mein Buch kaum halten. Wind und Regen peitschten den ganzen Tag um die Wette. Jetzt macht der Regen eine kleine Pause, aber die dunklen, schweren Wolken hängen so tief, dass man glaubt, sie anfassen zu können. Es ist ein einziger Albtraum. Ich schlafe nicht mehr, sondern irre rastlos stundenlang durch Ullapool oder das leere Haus, das ohne Großvater so schrecklich verlassen ist. Wie gut, dass Isobel den ganzen Tag damit beschäftigt ist, mit den Kindern der Fischer zu toben. Ich habe immer das Gefühl, hier fühlt sie sich frei. Kein Wunder, denn auf diese Weise kann sie dem unerbittlichen Regiment Caitronias entfliehen. Meine Schwiegermutter, die stets in Sorge ist, dass meine Familie in ihr durchbrechen könnte. Was wird sie nur mit Isobel anstellen, wenn sie erfährt, dass sie es nicht mehr mit den ungehobelten Boyds zu tun hat, sondern mit viel Schlimmerem? Wenn ich ein Mann wäre, würde ich auf einem der Schiffe anheuern und niemals an diesen Ort zurückkehren. Aber ich bin Lady Munroy und die Mutter eines entzückenden Mädchens. Ich darf nicht flüchten, und ich will von Herzen daran glauben, dass Niall mich noch genauso
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