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Munzinger Pascha

Munzinger Pascha

Titel: Munzinger Pascha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Capus
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Geschrei. Der Lärm scheint aus allen Gassen zu kommen, richtungslos und unvorhergesehen wie ein Sandsturm, der das Sonnenlicht schluckt und den Tag zur Nacht macht. Unruhig stellt Werners Maultier die Ohren auf; immer näher kommt das Wehklagen von Weibern, das Zorngebrüll von Männern. Werner wendet sein Maultier und stellt sich der Woge entgegen.
    Allen voran laufen vier junge Mädchen, die von Kopf bis Fuß mit Blut beschmiert sind; es tropft ihnen aus Haaren und Kleidern und hinterläßt auf der staubigen |135| Straße eine breite schwarze Spur. Hinter ihnen folgen vier Männer, die ein blutiges Bündel tragen, gefolgt von einer unüberblickbaren Menschenmenge, welche die Fäuste schüttelt und durcheinanderschreit. Werner sieht genau hin   – das Bündel ist ein Männerkörper, dem jemand Kopf, Hände und Füße abgeschlagen hat. Wahrscheinlich mit einem Beil, denkt Werner, und dann schämt er sich seines technischen Gedankens.
    »Aus dem Weg, Werner Munzinger!«
    Werner steigt vom Maultier und geht auf das blutige Bündel zu. »Wer ist das?«
    »Unser Vater! Unser Vater!« schreien die vier zu Tode entsetzten Mädchen.
    »Mach Platz, Werner Munzinger! Geh uns aus dem Weg!« rufen die vier Männer, die Lanzen tragen und denen Tränen der Wut in den Augen stehen. Es sind die Brüder der schreienden Mädchen.
    »Wohin lauft ihr mit dem Leichnam?«
    »Wir töten den Mörder unseres Vaters!«
    »Und da schleppt ihr seine Leiche durch die Gegend wie eine geschlachtete Kuh? Kommt in mein Haus, dort wollen wir euren Vater in weißes Leinen hüllen, wie es die Sitte vorschreibt.«
    Die Töchter verstummen, die Söhne schauen einander an. Sie kommen zu dem Schluß, daß der Respekt gegenüber dem Vater vordringlich sei, und tragen den Leichnam zum Steinhaus. Werner bringt einen Ballen weißes Leinen, drängt allen Honigwein auf und läßt sich das Drama erzählen.
    Das Unglück hatte seinen Anfang einen Tag zuvor genommen. Ein Onkel der jungen Leute war mit seinem |136| besten Freund auf Wildschweinjagd gegangen. Wie es unter Jägern Brauch ist, hatten sie sich getrennt, um einander das Wild zuzutreiben. Als nun der Onkel im Gebüsch ein Rascheln hörte, schleuderte er seine Lanze   – und durchbohrte seinen Freund. Voller Entsetzen floh er nach Hause, denn zum Grauen über seine Tat kam die Angst vor der Blutrache. Noch blieb die Hoffnung, daß der Freund überleben würde; sollte er aber sterben, wollte der Onkel sofort den Blutpreis von hundertvierundvierzig Kühen bezahlen.
    Der Freund starb in der Nacht. Im Morgengrauen machten sich dessen drei Brüder auf, die Tat zu rächen, wie es das Gesetz vorschreibt. Auf der Straße begegneten sie aber nicht dem Onkel selbst, sondern dessen Bruder, der noch nichts vom Jagdunfall wußte. Nach dem üblichen Gruß und Händedruck durchbohrten sie den nichtsahnenden Vater der jungen Leute mit der Lanze und hieben dem Leichnam die Hände, die Füße und den Kopf ab. Das Schwert des Getöteten nahmen sie als Trophäe mit.
    Schrecklicherweise geschah es, daß die vier Töchter des eben Ermordeten an jenem Morgen früh auf Holzsuche gingen und den verstümmelten Leichnam fanden. Die Mädchen warfen sich heulend auf die Leiche und tranken sich vom Blut des Vaters voll, bis die Brüder, vom Geschrei ihrer Schwestern alarmiert, den Körper davontrugen.
     
    Es gelang mir, mit milden Worten ihren ersten Zorn abzukühlen, so daß die Blutrache seitdem keinen weiteren Fortgang gehabt hat. Und da die zwei Todesopfer von gleichem adligen Stand waren, das heißt
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den gleichen Blutwert haben, so werden die beiden Parteien einst ohne allen weiteren Blutpreis Frieden machen. Man darf nicht außer acht lassen, daß die Blutrache nicht nur ein Recht, sondern eine heilige Pflicht ist. Der Bluträcher schont selbst seine innigsten Freunde nicht, da vor den Toten alle menschlichen Rücksichten verschwinden. Dies ist das Hauptunglück der Stämme und der Hauptgrund der Entvölkerung der Grenzländer Abessiniens. Blut wird nie verziehen, und die Kinder saugen den Rachedurst mit der Muttermilch ein.

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    Keren, ein Jahr später. Werner Munzinger steht hinter dem Haus bei der Pferdekoppel und hat ein seltsames Lächeln im Gesicht. In der Hand hält er ein Büchlein von knapp hundert Seiten. Mal sieht er sein Maultier an und murmelt etwas Unverständliches, dann schlägt er zum x-ten Mal das Buch auf und liest den Titel:
Ȇber die Sitten und das Recht der Bogos.
Von Werner Munzinger.

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