Munzinger Pascha
sich der Rangniedrige das Recht zu leben erkaufen. Ein angeborenes Recht, unangetastet zu leben, gibt es hierzulande nicht. Um ein ruhiges Dasein zu fristen, genügt es nicht, die wenigen Gesetze zu beachten und die meist unbedeutenden Steuern pünktlich zu zahlen. Viel wichtiger sind die indirekten Steuern, die kein Gesetz festlegt und die doch viel regelmäßiger bezahlt werden: die Geschenke nämlich. Die sind viel lästiger als die gewöhnlichen Steuern, und niemand, selbst der Mächtigste nicht, darf sich über diesen Brauch hinwegsetzen in Ländern, in denen alles doch nur abhängt vom guten Willen der Richter und Beamten. Der Mächtige reagiert äußerst empfindlich, wenn man
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ihm die Geschenke verweigert, denn er muß annehmen, daß man seine Macht weder achtet noch fürchtet. Ein Mann aber, den niemand fürchtet, hat in Afrika schnell keine Macht mehr.
Für die Einheimischen ist dieses System erträglich: Ein jeder hat seine Familie und seine Freunde, die ihn beschützen, ein jeder hat zeitlebens Gelegenheit, sich seinen Herren nützlich und unentbehrlich zu machen, und jeder ist zumindest ein guter Muslim, dem man hin und wieder schon einen Mißtritt verzeihen darf.
Der fremde Gast entbehrt all dieser Vorteile; ohne Freund, ohne Familie, ohne Vaterland, der Sprache nur halb mächtig, fremd durch Hautfarbe, Sitte und Denkungsart, heute hier, morgen fort, ist er allein auf die habsüchtige Gutmütigkeit seines Wirts angewiesen. Sein Wohl interessiert niemanden, da er doch nur vorüberreist, sein Tod bleibt unbeweint. Eine Kuh ist dem Herrn lieber als sein Gast, den er gewöhnlich zu beerben hofft.
Ist der Fremde nun aber vollends ein Christ, ein Feind des Propheten, so erregt schon sein Anblick Abscheu. So weh es unserem Selbstgefühl tut, so wahr ist es doch, daß der Fremde nur insoweit angesehen ist, als man aus ihm Vorteile erpressen kann. Edle Ausnahmen gibt es schon, sie sind aber eben Ausnahmen.
Wagt es nun der Fremde als freier Mann, ein Begehren zurückzuweisen, so verwandelt sich Habsucht in verletzten Stolz. Der Sultan verlangte Vogels Pferd; er ließ sich nie träumen, daß nur der geringste Einwand erhoben werden könnte, er glaubte im Gegenteil, der
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Weiße werde sich sehr geschmeichelt fühlen, seinen Beschützer befriedigen zu können. Nun wagt es der Ungläubige, das blasse Gesicht, der verächtliche Fremde, der geringer ist als der geringste Sklave, sich dem Begehren zu widersetzen! Die Habsucht wollte sein Pferd, die Empfindlichkeit sein Leben.
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In jenen Tagen des Juli 1862 erlebt Werner Munzinger etwas Neues: Es geht nicht mehr weiter. El Obeid ist der hinterste Winkel der Welt, der Mitte des 19. Jahrhunderts für einen einzelnen weißen Mann zugänglich ist. Werners unstetes Leben ist zum Stillstand gekommen. Aber es ist nicht die Ruhe des in den Hafen eingelaufenen Schiffes, sondern nur das kurze Innehalten eines Balls, den ein Kind senkrecht in die Luft geworfen hat. Denn sobald der Brief des Sultans eintrifft, gerät Werner wieder in Bewegung. Und genauso, wie der Ball zurück in die Hände des Kindes fliegt, reitet Werner Munzinger in seiner eigenen Spur heimwärts – zwei Wochen bis Khartum, weitere zwei Wochen bis Kassala, noch eine Woche bis Keren, wo er kurz vor Beginn der Regenzeit Ende August eintrifft.
Vor dem weißgetünchten Steinhaus steht Oulette-Mariam und sieht ihrem Gatten unter halbgeschlossenen Lidern entgegen. Werner steigt aus dem Sattel und fragt sich, woher um Himmels willen dieses Weib seine unerschütterliche Ruhe hat; immerhin ist er fast ein Jahr weit weg gewesen und war erheblichen Gefahren ausgesetzt.
»Es ist gut, daß du wieder da bist, Werner Munzinger. Es wartet Arbeit auf dich.«
»Die Arbeit kann warten.«
»Diese Arbeit wartet schon sieben Jahre.«
|157| »Ach,
diese
Arbeit! Haben wir die nicht längst zu Ende gebracht?«
»Irgend etwas müssen wir übersehen haben.« Oulette-Mariam zählt an den Fingern ab. »Die Nase haben wir gewiß hundertmal gemacht, das Mündchen auch, die zehn Fingerchen und die Zehen auch . . .«
Während die Eheleute gemeinsam die Bestandteile eines Babys aufzählen, schließt sich hinter ihnen die Tür des weißgetünchten Steinhauses, und Werners Maultier trottet zufrieden in den Stall, den es so lange entbehren mußte.
Ende Oktober ist die Regenzeit zu Ende und Munzinger wieder bei Kräften. Er reitet nach Massaua, schaut in seinem Warenlager vorbei und fordert von Mohammed die
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