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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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Gedanken
an längeres Verweilen erst gar nicht aufkommen zu lassen.
    »Woanders
ist die Hitze noch schlimmer«, sagte Bobo, der an der Einsackmaschine
arbeitete, nüchtern. »Einmal, letzter Sommer, wir arbeiten in einer
Marmeladenfabrik in Aachen. Sehr, sehr heiß. Viele Wespen.« Reumütiges,
zustimmendes Gemurmel von Seiten der Männer am Tisch. »Wir haben großes Glück,
dass wir hier bei Fresh & Crispy sind«, fügte Bobo hinzu.
    »Mmm«,
sagte ich. Ehrlich gesagt, wüsste ich nicht, wie glücklich ich mich schätzen
würde, wenn man mich um die halbe Welt zerrte, um dann den ganzen Tag
Christstollen zu produzieren. Andererseits, im Vergleich zu denen, die die
Kartons zusammenfalteten, sie voll packten und dann auf Paletten stapelten,
hatte ich als Begradiger wahrscheinlich einen vergleichsweise leichten Job
erwischt. Meistens wussten die Stollen sich zu benehmen, und die meisten
Korrekturen, die ich anbrachte, waren mehr oder weniger kosmetischer Natur.
Allerdings kam etwa alle halbe Stunde so ein Frechdachs in bedrohlich diagonaler
Lage daher. Dann griff ich mir den Burschen, stupste ihn auf seinem Weg in die
Zuckergussmaschine gekonnt ein Stückchen nach links und oder ein Stückchen nach
rechts, und schon hatte ich das Desaster abgewendet.
    Ansonsten
überwachte ich bloß, wie hunderte von identischen Stollen an mir vorbeikrochen,
hunderte und aberhunderte von identischen Stollen ... Als ich das erste Mal
halluzinierte, war ich ziemlich erschrocken. Aber die Letten beruhigten mich,
das sei ein ziemlich geläufiges Phänomen bei Fließbandarbeit. Nichts, worüber
man sich Sorgen machen müsse, im Gegenteil, manchmal sei das sehr amüsant. Und
schon bald tummelte ich mich fast den ganzen Tag übermütig und glücklich in
meinen Tagträumen. Im Obstgarten vom alten Thompson pflückte ich mehrfarbige
Äpfel, mit meinem imaginären Hund tollte ich auf dem Rasen herum, und oben auf
meinem unversehrten Turm im Garten schlürfte ich Gimlets mit Mirela, ließ mir
von ihr die Wange tätscheln und hörte mir die charmanten Nichtigkeiten an, die
sie mir ins Ohr säuselte ...
    Mr
Appleseed ließ uns nie aus den Augen. Unermüdlich patrouillierte er durch die
unerträgliche Hitze von Veredelungsbereich B oder spähte aus seiner
Vorarbeiterkabine aus Plexiglas auf uns herunter wie eine monströse Spinne im
Blaumann. Aufrecht stehend hätte er etwa zweieinhalb Meter gemessen, aber er
stand nie aufrecht. Den Hals eingeklemmt zwischen den hochgezogenen Schultern,
stand er immer nur gebückt da und brabbelte mit herunterhängenden Mundwinkeln
und tiefer, krächzender Stimme pausenlos Verwünschungen. Er war unfassbar dünn,
trug eine Brille mit dicken Gläsern und machte uns allen Angst. In den ersten
Tagen, als ich noch Hoffnungen auf Revolte oder Flucht hegte, da hatte mich der
Gedanke an Mr Appleseed immer davon abgehalten.
    Ich nehme
an, dass er mich deshalb zu seinem Vertrauten erwählte, weil ich das beste
Englisch von allen sprach. Das hieß nicht, dass ihm auch nur im Geringsten an
mir persönlich gelegen war - was er mir anhand seiner Wortwahl auch klar
machte.
    »Ich hasse
Penner wie dich, das ist dir doch klar, Arschgesicht?«, sagte er zum Beispiel.
    »Ja, Mr
Appleseed.«
    »Ich hab
deine Personalakte gesehen. Typen wie dich kenn ich. Typen, die glauben, alle
anderen sind nur für sie da, die glauben, dass die Christstollen einfach so vom
Himmel fallen.«
    »Ja, Mr
Appleseed.«
    »>Ja,
Mr Appleseed<«, äffte er mich nach. Durch meine Maske aus erstarrtem Zucker
bohrte sich sein bösartiger, lüsterner Blick in mich hinein.
    Ich hatte
noch nie jemanden getroffen, der sich mit solcher Begeisterung seinem Hass
hingab. Er hasste jeden, der bei Fresh & Crispy arbeitete. Er hasste die
Länder, aus denen sie kamen. Er führte eine Art Tabelle seiner meistgehassten
Rassen, in der man auf- und absteigen konnte.
    »Hast du
schon mal einen gesehen, der so brunzdumm ist wie die Letten da?« An einem
Cracker knabbernd, schwankte er zu mir herüber und lehnte sich an den Rand des
Fließbands. »Kein Wunder, dass die in ihren Scheißländern nichts auf die Reihe
kriegen. Wahrscheinlich hat der arme Stalin wegen denen zum Saufen
angefangen. Wenn du Arschgesicht mir von deinem Elfenbeinturm runter das vor
zehn Jahren erzählt hättest, dass ich mal den Chef für 'ne Kolonne Letten mach,
dann hätt ich dir erzählt, wohin du dich verpissen kannst. Tja, aber da sind
sie. Ist für 'n Iren heutzutage wohl nicht mehr gut genug, ein

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