Murray, Paul
schaute im Spiegel mein tumbes
Gesicht an. Dann drehte ich einen der Klappstühle um und setzte mich. Kurz
darauf erschien Mutter in der Tür, im Krankenhaushemd. »Wo ist deine
Schwester?«, fragte sie gebieterisch.
Ich machte
eine lethargische Handbewegung in Richtung der verschlossenen Tür. Mutter
marschierte, anscheinend ohne die Fotografien unter ihren Füßen zu bemerken,
darauf zu. Sie klopfte einmal und befahl Bel in einem Ton, mit dem man Metall
hätte schneiden können, herauszukommen. Nach einer kurzen Pause drehte sich der
Schlüssel im Schloss und Bel kam mit verschämtem und verheultem Gesicht
heraus.
»Was
denkst du dir eigentlich?« Mutter packte sie am Arm und zog sie Richtung Tür.
»Du musst gleich auf die Bühne, also los!«
Doch Bel wehrte
sich. Sie befreite ihren Arm aus der Umklammerung und wich in die Ecke zurück.
»Was ist?«, sagte Mutter sehr
leise.
Bel versuchte
zu sprechen, doch mehr als Gestammel brachte sie nicht heraus. Sie lief
puterrot an und senkte den Kopf.
»Bei«, sagte Mutter. »Worum es
sich auch immer handelt, das kann warten bis nachher. Ich werde nicht zulassen,
dass du uns diesen Abend ruinierst. Ich werde es nicht zulassen, hast du mich
verstanden?«
»Hast du
das nicht gesehen?«, presste Bel hervor und zeigte auf den Boden. »Das da!«
»Ich sehe
nur eins«, sagte Mutter mit jetzt lauterer Stimme. »Und zwar ein eingebildetes
und verwirrtes Kind, das mit einem Anfall von Jähzorn alles gefährdet, was wir
uns so hart erarbeitet haben...«
»Anfall
von Jähzorn?« Zwei scharlachrote Punkte erschienen auf Bels Wangen.
»Genau das
ist es.« Mutter legte nach. »Gut möglich, dass das deine Prinzipien verletzt, aber was man uns heute Abend anbietet, ist ein Rettungsanker
- das ist die Chance nicht nur für die Theatergruppe,
sondern auch für das Haus und für die Familie, wieder auf die Beine zu kommen.
Amaurot bekommt wieder einen Namen, den man kennt und der Gewicht hat, und das
hätte auch Vater gewollt...«
»Die Familie«, fiel Bel ihr
ins Wort. »Welche Familie? Wie kannst du bloß immer so tun,
als würde dir das irgendwas bedeuten, wo doch wirklich jeder weiß, dass du nur
wieder zurück auf die Gesellschaftsseiten willst, damit die Leute dich wieder
zu ihren Vernissagen einladen...«
»Christabel«,
sagte Mutter mit gleichmäßiger, zischender Stimme. »Du hast ganz offensichtlich
Probleme. Aber es gibt Möglichkeiten, wie wir das angehen können. Es gibt
Ärzte...«
»... wenn
du das hast, dann bist du blind gegenüber allem, was um dich herum vorgeht -
und das war es auch, was Vater immer
wollte, oder etwa nicht?«
Mit einer
einzigen präzisen Bewegung schlug Mutter ihr ins Gesicht.
»Also
wirklich!«, rief ich und sprang von meinem Klappstuhl auf. »Mutter!«
Ihr
fuchsteufelswilder Gesichtsausdruck reichte aus, um mich augenblicklich
erstarren zu lassen. Ihr Blick glich dem eines Wesens, das gerade dem Grab
entstiegen war. »Das Stück«, sagte ich mit bittendem, Rückzug signalisierendem
Unterton. »Ihr müsst auf die Bühne.«
Das
brachte sie wieder zur Besinnung. Sie räusperte sich und strich ihr
Krankenhaushemd glatt. Sie wandte sich noch einmal Bel zu, die ins Leere
starrte und weniger geschockt aussah, als vielmehr den Eindruck machte, als
hätte sie ein Offenbarungserlebnis gehabt. In
einem Tonfall so kühl und klar wie Wasser sagte Mutter: »Charles hat Recht. Wir
können diese Diskussion später fortsetzen. Einverstanden?«
Bel, auf
deren Wange immer noch der dunkelrote Abdruck von Mutters Hand zu sehen war,
nickte stumm.
»Gut«,
sagte Mutter und streckte sich. »Los jetzt, du bist gleich dran. Charles, du
kommst bitte mit.«
Sie nahm Bel
am Ellbogen und geleitete sie über das Meer aus schwarzweißem Hochglanzfleisch
zur Tür. MacGillycuddy saß immer noch am Fuß der Dienstmädchentreppe. Die
beiden Frauen gingen wortlos an ihm vorbei und steuerten die Bühnenkulisse an.
Ich blieb stehen und schaute ihn an. Bevor ich jedoch den Mund aufmachen
konnte, startete er eine lange Rechtfertigungsrede des Inhalts, dass er bloß
das Werkzeug seiner Klienten sei, dass er nur getan habe, was man ihm
aufgetragen habe, und dass er lediglich ein klein wenig Seelenfrieden beigesteuert
habe...
»Seelenfrieden?
Pornografische Fotos an ein unglückliches, verwirrtes Mädchen zu verkaufen,
nennen Sie Seelenfrieden?«
»Sie
wollte es ja so haben«, sagte MacGillycuddy quengelig. »Das war ihre Idee,
nicht meine. Sie bittet mich, einen kleinen Job
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