Murray, Paul
dunklen Kulisse starrte, wo sicher schon MacGillycuddy mit
dem langen braunen Kuvert auf sie wartete ... »Und was machen Sie mit diesen
Menschen? Sie stecken sie in hübsche kleine Schubladen mit hübschen kleinen
Etiketten, damit Sie nicht mehr über sie nachdenken müssen! Das ist Ihr System!
Das sind Ihre >Verfahrensregelnanfangen zu mahlen, ob Ihnen das gefällt oder nicht, die Mühlen der Gerechtigkeit,
die Mühlen des Schicksals ...«
»Das muss
man ihm lassen, Charlie«, flüsterte Frank. »Er ist vielleicht 'ne Schwuchtel,
aber er ist ein höllischer Anwalt, dieser Harry. Ist doch klar, dass Mirela auf
den steht.«
Ich sagte
nichts, ich kämpfte mit den bunten, vor meinen Augen herumschwirrenden
Pünktchen und mit der Horrorvorstellung, dass die Worte, die die Schauspieler
auf der Bühne sprachen, nicht mehr länger zu dem Stück gehörten, sondern zu
einer dunkleren Sphäre darunter, einer Sphäre, die sich ausdehnte und außer auf
uns auch auf die Wände, die Decke, die Grundmauern übergriff...
Jetzt
waren Harry und Mirela allein in Harrys Zimmer. »Nein, nein, nein!«, schluchzte
sie. »Wir dürfen ihr nichts davon sagen; sie darf das nie erfahren. Gestern
Nacht war ein Fehler - ein wunderschöner, ein berauschender Fehler, aber ein
Fehler, der sich nie wiederholen darf.«
»Oh, Ann«,
sagte Harry verzweifelt. »Begreifst du denn nicht? Es war nicht Mary, die ich
liebte, es war ihr Fall. Es war die Chance, eine Lanze zu brechen für unsere
körperlich herausgeforderten Mitmenschen, die Gelegenheit, der Sache der
Freiheit zu dienen - darin hatte ich mich verliebt. Aber meine Liebe für dich,
die gilt nur dir allein - nicht nur deiner Schönheit und viel versprechenden
Modelkarriere, sondern weil du so wahrhaftig bist, weil du eine Seele und ein
Herz hast, die Mary in sich noch finden muss ...«
»Was ist,
Charlie?«, flüsterte Frank. »Musst du aufs Klo?«
»Aber sie
liebt dich«, sagte Mirela unter Tränen und klammerte sich an sein Revers.
»Nein«,
sagte Harry. »Mary hat nie gelernt zu lieben, sie hat sich in das Schneckenhaus
ihres Rollstuhls verkrochen. Aber die letzten Wochen der Gerichtsverhandlung
haben sie verändert. Wir haben sie auf die Rampe der Selbsterkenntnis geführt.
Vielleicht tut sie jetzt den entscheidenden Schritt hin zur Erlösung,
vielleicht überwindet sie jetzt die Barriere.« Er strich ihr übers Haar, und
sie legte ihr tränennasses Gesicht auf sein Halstuch. Ich sprang von meinem Stuhl
auf und stürzte aus dem Saal.
MacGillycuddy
saß auf der untersten Stufe der Dienstmädchentreppe und bog sich aus einem
Zahnstocher eine Art Tier zurecht. Bevor er noch den Mund aufmachen konnte,
war ich schon an ihm vorbei.
Der Boden
der leeren Schauspielergarderobe war von Wand zu Wand übersät mit Fotografien:
Schwarzeißfotos auf Hochglanzpapier, die etwa so groß wie
Schreibmaschinenseiten waren und ziemlich professionell aussahen. Ich hob eins
auf. Mein Zimmer. An der Wand hing ein altes Poster, das Harry nicht abgenommen
hatte: Jimmy Stewart küsst Donna Reed in It's A Wonderful Life. Laut Datum
unten rechts in den frühen Morgenstunden aufgenommen. Unscharf wegen der
Bewegungen und des spärlichen Lichts; das glänzende schwarze Haar in der
Bewegung eingefangen; der Körper auf dem Bett so konturlos wie Rauch: ein
Geist aus der Flasche, der sich seinem glücklichen Erlöser entgegenringelt.
Ich ließ das Foto fallen, und es segelte zurück zu den anderen. Es mussten
dreißig oder vierzig sein. Wie sie über den Boden verstreut dalagen, sahen sie
aus wie ein Mosaik, dessen anonym ineinander greifende Einzelteile auf eine
größere, unklare Bedeutung verwiesen - die über einem Stuhl im Hintergrund
hängende Weste oder die wie ein schlechter Witz wirkende, stumpf glänzende
Prothese. Der Vorstellungskraft blieb nur wenig überlassen: Sie hatten
MacGillycuddy eine ziemliche Show geboten.
Aus dem
kleinen Klo in der Ecke hörte ich Geräusche des Jammers. Ich stakste über die
Bilder und klopfte an die Tür. »Bel?«
Würgegeräusche,
sofort übertönt vom Spülen der Toilette. »Hau ab«, sagte eine schwache Stimme.
»Alles in Ordnung?«
»Nichts ist in Ordnung. Blöde
Frage«, sagte die Stimme. »Kommst du raus?«
Sie schien
kurz darüber nachzudenken. »Nein«, sagte sie. »Ich komm nie mehr raus.«
Wieder
Würgen. Ich drehte mich zu dem langen Garderobentisch um, dessen nackte
Glühbirnen für niemanden mehr brannten, und
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