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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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den Vorschlag, doch bevor
ich noch meiner Empfehlung für Chile als ein Land mit vielen Vorzügen Ausdruck
verleihen konnte, erhob sich jenseits des Vorhangs ein großes Getöse. Der Lärm
war gewaltig und chaotisch, er hörte sich an wie eine Lawine oder wie ein
Wald, dessen Bäume in ein und derselben Sekunde umgeholzt wurden. Und dann
hörten wir die Jubelschreie und Bravos, der Vorhang wurde wieder nach oben
gezogen, und wir ließen die Standing ovations
über uns ergehen.
     
    Ein
Triumph, so die Kritiken am nächsten Tag. Harry Littles liebenswertes Melodram
habe das Publikum in falscher Sicherheit gewiegt und dann, wie aus dem Nichts,
zum entscheidenden Schlag ausgeholt: Die aufkeimende Liebe zwischen ihrer
Schwester (eine Mirela Pribicevic von großer Strahlkraft) und dem schneidigen
jungen Anwalt (Little) verhilft der an den Rollstuhl gefesselten Mary
(einfühlsam dargestellt von Bel Hythloday) dazu, buchstäblich auf eigenen Füßen
erste unsichere Schritte in eine selbstverantwortliche, aber erlösende Freiheit
zu tun. Was zunächst anmutet wie ein flaches, wenn auch gut gemeintes Werk,
das von den Schwierigkeiten eines in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkten
Menschen handelt, in ein Gebäude hinein und wieder hinaus zu gelangen, entpuppt
sich in fast schon Lacanscher Rasanz der Auflösung - der zweite Teil des Stücks
dauert nur siebzehn Minuten - als ein schockierender, explosiver Kommentar zum
Wesen der Freiheit, zur erlösenden und dennoch kathartischen Kraft der Liebe,
zur Funktion des Theaters in der modernen Welt und ... etc., etc.
    »Was für
eine Ironie«, sagte ich. »Sieht ganz so aus, als hätte dein bisschen e pater
les bourgeois tatsächlich das ganze Unternehmen gerettet.«
    »Ist mir
auch schon aufgefallen«, sagte sie gelangweilt. Der Ex-Joyrider, jetzt Arzt,
federte mit einem Drink mit Schirmchen im Congaschritt an uns vorbei. Um uns
herum tobte die Party. Zwischen ihren Knien hindurch beobachtete Bel das
Treiben. Mit jeder Sekunde machte sie einen abwesenderen Eindruck - wie ein
Aschenputtel, dessen Zeit abgelaufen ist, und das nun nicht nur mit ansehen
muss, wie sich die Kutsche wieder in den Kürbis zurückverwandelt, sondern auch,
wie sich aus des Königssohns Koffer ein ganzer Berg gläserner Pantoffeln über
den Boden ergießt. Ich beugte mich vor, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel
und massierte meinen bandagierten Schädel. »Herrgott, Bel, was hast du dir bloß
gedacht?«
    »Ich war
wütend«, sagte sie.
    »Ich weiß,
dass du wütend warst. Das meine ich nicht, ich meine die Fotos, MacGillycuddy.
Was hat dich da bloß geritten?«
    »Weiß
nicht«, sagte sie elend. »Er hat mir seine Goldsiegel-Erfolgsgarantie gegeben.«
    »MacGillycuddys
Goldsiegel-Erfolgsgarantie ist das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt
ist«, schnaubte ich. »Du weißt doch genau, dass alles, was der Kerl anpackt, im
Chaos endet. Wie konntest du bloß so ... Ich meine, ich versteh's einfach
nicht.«
    »Ich
wollte einfach, dass es klappt«, murmelte sie durch den Spalt zwischen ihren
Knien hindurch. »Ist doch normal, wenn man jemanden mag, oder? Man findet raus,
was der andere mag, und tut so, als ob man es auch mag. Man lacht über seine
Witze...«
    »Aber
kapierst du denn nicht?« Verzweifelt zupfte ich mich am Ohr. »Kapierst du
nicht, dass da ein Unterschied ist, ob ich über die Witze von jemandem lache
oder ob ich ihn von MacGillycuddy ausspionieren lasse? Ich meine, das passt gar
nicht zu dir...«
    »Ich
konnte einfach nicht anders«, sagte sie. »Ich musste etwas tun. Du hast ja
keine Ahnung, wie das hier war die ganze Zeit. Dauernd hat sie mich an den Rand
gedrängt, hat versucht, alles zu kontrollieren. Bel den Proben hat sie sich
praktisch entblättert vor ihm, obwohl sie ihn eigentlich
gar nicht wollte; sie hat's bloß getan, weil sie wusste, dass sie ihn haben kann ...«
Bekümmert runzelte sie die Stirn. »Die Kussszene haben sie wahrscheinlich
hundertmal geprobt.«
    »Das ist
doch kein Grund, eine komplette Liebesgeschichte zu inszenieren. Ich meine, was
hast du denn erwartet, wie das ausgeht? Das konnte doch gar nicht gut
gehen...«
    »Es hat
doch funktioniert, oder etwa nicht?«, sagte sie leise.
    »Das ist
ja wohl eine ziemlich akademische Sichtweise«, sagte ich.
    »Es hat funktioniert«,
sagte sie störrisch, als spräche sie mit sich selbst. »An dem Abend damals auf
dem Dach, da war alles perfekt.«
    »Wenn
alles so perfekt war«, sagte ich säuerlich, »warum hast du

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