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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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eines Tages zurückkehren würde, dass Amaurots Schicksal
und das meine auf immer miteinander verbunden sein würden ... Aber vielleicht
hatte sie Recht. Vielleicht hatte das Haus wirkliche eigene Interessen, die es
zu verteidigen hatte. Vielleicht hatte es wirklich Ersatz gefunden und erschuf
sich jetzt den Sohn und die Tochter, die wir nie richtig hatten sein können.
Von nun an lag es an diesem neuen Paar, die Strategien für das Haus zu
entwerfen, seine Hallen mit Frohsinn und Gelächter und dem feinsten Brokat zu
schmücken, und das Leben zu leben, das den Abkömmlingen dieses großen...
    Nun ja,
und wenn schon, wir hatten ihm unser Bestes gegeben, oder etwa nicht? Und war
es nicht so am besten? Wir beide, zu guter Letzt vereint, auf grandioser
Abschweifung durch die Welt. Und während in meinem Kopf der Gedanke an Höhe
gewann und die Stadt mit all den Orten, die auf uns warteten, vor meinem geistigen
Auge Gestalt annahm, da platzte eine Windbö durchs Fenster. Sie blies durch
die staubigen Ritzen und das Gingham-Tischtuch, durch den unbespannten
Tennisschläger und die vergilbte Chantilly-Spitze, durch all die schäbigen
Zeugnisse von hunderten aufgebrauchter Leben. Ich spürte, wie sich ein
idiotisches, verblüfftes Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitete. Einen Augenblick
lang hatte ich eine Vision, die die umnachtete Skyline Bonetowns überlagerte:
Bäume, durch deren Geäst die Sonne glitzerte, und die Worte Heute ist
der erste Tag vom Rest deines Lebens...
    »Nicht
bewegen, Charles!« Bels aufgerissene Augen fixierten einen Punkt dicht über
meiner rechten Schulter.
    »He?«
    »Da sitzt eine riesige Spinne auf
deiner Rückenlehne.«
    »Igitt!«
    »Nicht
bewegen!«, sagte sie noch einmal und blinzelte in das dämmerige Licht. »Gott,
in meinem ganzen Leben hab ich noch keine so große Spinne gesehen!«
    »Na los, mach sie fertig,
schnell!«, jammerte ich.
    »Das
bringt Unglück, wenn man eine Spinne tötet«, sagte Bel gefasst.
    »Tu irgendwas! Igitt, ich spür richtig, wie sie mich anschaut.«
    »Okay,
okay, halt still.« Ich biss die Zähne zusammen und blieb wie versteinert
sitzen, während sie langsam den Arm nach der Fernsehzeitung ausstreckte, sie
zusammenrollte und dann - mit überraschender Behändigkeit, angesichts all der
White Russians - auf mich zusprang und einen blitzartigen Streich gegen die
Rückenlehne meines Sessels führte. Und noch einen und noch einen - bis die
unglückselige Spinne mit einem leisen Plumps auf den Boden fiel. Schweißgebadet
sackte ich zusammen, während sich Bel schwankend hinter den Sessel begab, um
die Überreste zu begutachten.
    »Ist sie
tot?«, fragte ich und fuhr mir mit den Fingerspitzen über die Stirn.
    Sie sagte
nichts.
    »Hey, was
ist?«, sagte ich.
    Die
wunderliche Stille hielt an. Und dann hörte ich sie sagen: »Moment mal, das ist
ja gar keine Spinne.«
    In
derselben Sekunde wusste ich, was passiert war. In der nächsten Sekunde schoss
ich aus dem Sessel, doch es war schon zu spät. Bel richtete sich auf, und sie
hielt einen langen schwarzen Handschuh in der Hand.
    Natürlich
hatte sie ihn wiedererkannt: Überflüssig zu erwähnen, dass er passte wie
angegossen. Absolut keine Chance, mich da herauszulügen. Ich zog mich in
Richtung Küche zurück, während sie verwirrt den Handschuh anstarrte und sich
darüber klar zu werden versuchte, wie er in die Wohnung gekommen war. Als das
Blut aus ihrem Gesicht wich, wusste ich, dass sie verstanden hatte. Und während
sie sich langsam wieder auf dem Sofa niederließ und ins Leere starrte, wusste
ich, dass ihr all das durch den Kopf ging, was sie gerade über Vertrauen und
einen neuen Anfang gesagt hatte - besonders das über Vertrauen. Die Vision von
den glitzernden Sonnenstrahlen, von den Bäumen - sie verpuffte.
    »Ich kann
das erklären«, sagte ich - natürlich konnte ich das.
    »Ist sie
hier?«, sagte sie und schluckte. »War sie die ganze Zeit hier?«
    »Frag mich
nicht so was«, sagte ich mit bettelnder Stimme. »Es ist nicht so, wie du
glaubst.«
    »Genau das
hat auch Harry gesagt«, sagte sie traurig und schaute mich durch ihre
verschmierte Maske an. »Exakt die gleichen Worte.«
    »Ja,
aber...«, sagte ich gedehnt. »Das heißt...
    »Ach,
Charles«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf.
    Sie sagte
das nicht verurteilend oder rachsüchtig. Wenn es so gewesen wäre, hätte ich
mich nicht so schlecht gefühlt. Stattdessen sagte sie es in müdem, traurigem
Tonfall, urteilsfrei, wie die Menschen, die in

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