Murray, Paul
ist?« Als sie den Ausläufern des
Schrottgebirges gefährlich nahe kam, hastete ich hinter ihr her und bugsierte
sie in eine andere Richtung. Dann zündete ich mit zitternden Fingern die
Laterne an. »Was, zum Henker, willst du eigentlich hier? ... Großer Gott!«
Sie sah
völlig fertig aus. Das auf dem ganzen Gesicht verlaufene Make-up und die
verschmierten schwarzen Augenringe gaben ihr ein geisterhaft kubistisches
Aussehen. Das reizende champagnerfarbene Kleid unter dem roten Mantel hing
schlabberig an ihr herunter. Es sah aus wie die Flügel einer betuchten Motte,
die in einen Regenschauer geraten war. Nur dass es nicht regnete. Schwankend
stand sie im Lichtkegel der Laterne vor mir. Was sie absonderte, war weniger
ein Geruch, denn ein Alkoholdunst, der so toxisch war, dass es mir schon vom
Danebenstehen das Wasser in die Augen trieb.
»Du bist
ja ganz rot«, sagte sie und schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an.
»Was hast du gemacht?«
»Gemacht?«,
piepste ich und warf einen besorgten Blick zu dem dunklen Spalt meiner
angelehnten Zimmertür. »Überhaupt nichts. Kommt wahrscheinlich von der Hitze.
Ziemlich warm für die Jahreszeit, findest du nicht auch?« Doch sie hatte ihre
Frage schon wieder vergessen und wankte, benebelt wie sie war, auf die Couch zu
und stellte ihren Koffer darauf ab. »Du, Bel...« Ich drückte mich schnell an
ihr vorbei, nahm das mit Lippenstift verschmierte Weinglas vom Tisch und schob
es in die Tasche des Morgenmantels. »Du, Bel, ich ...«
»Es riecht
so angenehm, kann mich gar nicht erinnern, dass es hier so...«
»Ach ja,
richtig.« Ich öffnete das Fenster und fächelte wie wild frische Luft ins
Zimmer. »Laura, als sie neulich da war, da hatte sie so einen gigantischen
Potpourritopf dabei. Du, Bel...«
»Hast du
was zu trinken da?«
»Schätze,
du hast genug für heute«, sagte ich und fügte dann zögernd hinzu: »Aber ich
kann dir einen Tee machen, wenn du willst.«
»Ja,
wahrscheinlich hast du Recht«, sagte sie und ließ sich aufs Sofa fallen.
»Dreimal hab ich dem Taxifahrer gesagt, dass er anhalten soll, weil ich
gedacht hab, ich muss...« Sie starrte brütend in ihre Handtasche, als enthalte
sie den Schlüssel für den ganzen Schlamassel. Dann drehte sie sie um und
schüttete sie aus, ohne Erfolg. »Ich glaube, der hat mich beschissen«, sagte sie.
Ich ging
in die Küche und setzte den Wasserkessel auf, dann stand ich vor der Spüle und
zermarterte mir das Hirn. Was wollte sie hier? Wie bekam ich sie bloß wieder
aus der Wohnung? Ausgerechnet heute Nacht musste ihr einfallen, mich zu
besuchen...
Das Wasser
kochte. Wenigstens war Mirela so schlau gewesen, im Zimmer zu bleiben.
Wenigstens etwas. Gut möglich, dass Bel gar nichts merkte, betrunken wie sie
war.
»O mein
Gott ... Was ist das denn?«
Ich
sprintete ins Wohnzimmer. Sie hielt einen Stoß Schreibmaschinenpapier in der
Hand und las. »Leg das wieder hin!«, befahl ich ihr.
»>Ich hab
Bosnier unterm Dach. Eine Tragödie in drei Akten von
Charles Hythloday.<«
»Bitte,
gib das her.« Ich streckte die Hand aus. Sie drehte sich weg und blätterte um.
»>Handlung<« Sie blätterte weiter, dann wieder zurück, dann durch die anderen
Seiten. »Das ist alles?«
»Das
braucht halt seine Zeit«, sagte ich hochnäsig. »Wenn man's richtig machen
will.«
»Ich hab
Bosnier unterm Dach.« Sie drehte sich auf den Bauch. »Bitte,
sag nicht, dass du deine Autobiografie schreibst.«
»Es
enthält autobiografische Elemente, sicher. Aber wie du siehst, habe ich aus dem
Turm eine Dachkammer gemacht. Ich hab mir gedacht, dass die Leute dann einen
besseren Bezug dazu haben.«
»Einen besseren Bezug?« Stöhnend drehte sie sich wieder auf den Rücken und
legte sich die Blätter aufs Gesicht. »Sohn einer wohlhabenden Mutter geistert
in seinem Haus rum, dreht Däumchen und führt imaginäre Gespräche mit seinem
gerade verstorbenen Vater ... Gott, Charles, das kannst auch nur du glauben,
dass irgendwer unser stumpfsinniges Leben irgendwie interessant oder erbaulich
finden könnte.«
»Nur weil
einer sein Leben nicht in einer Spülküche fristet, heißt das noch nicht, dass
sein Leben uninteressant ist«, sagte ich störrisch. »Das ist ein Vorurteil,
dass auch nur du hast. Übrigens, was du da gerade aufgezählt hast, hört sich
ein bisschen wie Hamlet an.«
Bel brummte
was von einem geistig Verwirrten, der einem eine Geschichte erzählt, und
leistete keinerlei Widerstand, als ich mich bückte und die über ihr
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