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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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und quasi den ganzen Laden in die Zukunft,
ins einundzwanzigste Jahrhundert hieven...«
    Ich
näherte mich langsam dem Punkt, an dem ich es physisch nicht mehr länger würde
ertragen können. Und offenbar gab es noch jemanden im Raum, der ähnlich fühlte,
denn plötzlich rief eine laute, aufgebrachte Stimme: »Ach was, Affenscheiße!«
    Alle verstummten.
Harry rückte seine Fliege zurecht und sagte: »Bitte?« Als wollte er dem
Delinquenten Gelegenheit geben, sich wieder reinzuwaschen. Doch der
Protestierende ließ sich nicht beschwichtigen. »Affenscheiße!«, kreischte die
Stimme ein zweites Mal, und zwar noch lauter als beim ersten Mal. Ich kicherte
in mich hinein und amüsierte mich so prächtig beim Anblick des sich windenden
Harry, dass es ein paar Sekunden dauerte, bis ich merkte, dass ich aufgestanden
war und alle mich anstarrten. Auweia!
    »Charles,
verlass bitte den Raum«, sagte Mutter.
    »Nein«,
mischte Harry sich ein. »Wenn Sie nichts dagegen haben ... Ich würde gern
hören, was Charles zu sagen hat.«
    Unvorhergesehenerweise
hielt ich nun selbst eine Rede an die Runde. Ich wischte mir die Hände an den
Hosenbeinen ab. »Nun ja ... ich meine ...«, stotterte ich. »Ich meine ... ein
Haus ist ein Haus, stimmt's? Ein Ort, wo Menschen leben. Ich kapier nicht, was
das einundzwanzigste Jahrhundert damit zu tun haben soll. Ich kapier das nicht:
Ihr klatscht ein paar neue Tapeten an die Wand, und dafür dürft ihr euch dann
im Namen der Zukunft das ganze Anwesen einverleiben ...
wie ... wie Piraten auf Zeitreise.«
    »Genau, so
einer ist Harry«, sagte Niall O'Boyle glucksend. »Ich mag Männer, die die
Zukunft im Visier haben. Da passiert doch alles, oder etwa nicht? Denken Sie an
meine Worte. Die Vergangenheit ist eine Sache, aber die Zukunft, da wird das
Geld verdient.«
    »Ich will
doch niemandem auf die Zehen treten«, sagte Harry. »Ich sag nur, dass man mit
der Zeit gehen muss. Das ist doch in jedermanns Interesse. Du musst zugeben,
dass das Haus dabei war, sich in seine Einzelteile aufzulösen, bis wir kamen.«
    Meine
Gedanken schweiften zurück zu den goldenen Tagen, als es nur Bel und mich und
den Barschrank gab. »War es nicht«, sagte ich.
    »War es
doch«, sagte er. »Die Farbe ist abgeblättert, die Fußböden waren verrottet,
und deine Mutter hat uns erzählt, dass, während sie im Sanatorium war, die Bank
schon die Sheriffs aufgescheucht hatte, um das Haus einzukassieren ...«
    »Alles ein
Missverständnis«, behauptete ich störrisch.
    »Und du
hast versucht, den Gartenturm in die Luft zu jagen«, fuhr Harry fort und
fingerte dabei an den Knöpfen seiner Anwaltsweste herum. »Ich meine ... du hast
versucht, deinen eigenen Tod vorzutäuschen. Warum, wenn doch alles bestens
war?«
    Ich war
wie betäubt und hielt nach Verstärkung Ausschau. Bel starrte nach wie vor
verträumt ins Leere, wie ein narkotisierter Patient im Zahnarztstuhl. Franks
Oberkörper lag schon seit fünf Minuten schlaff wie eine Stoffpuppe auf dem
Tisch. Alle anderen warteten auf meine Antwort, jedes ihrer Augen ein Spieß in
meinem Fleisch. »Wir hatten alles im Griff«, murmelte ich.
    Es trat
eine kurze Verzögerung ein. Dann, unisono, brach die gesamte Tischgesellschaft
in Gelächter aus. Es war ein herzliches, dröhnendes Lachen. Alle lachten mit,
sogar Menschen, die ich vorher nie gesehen hatte, wie Niall O'Boyles
persönliche Assistentin, sogar Mutter, deren Unmut in der allgemeinen Fröhlichkeit
verpuffte.
    Harry warf
humorig die Hände in die Luft, als wolle er sagen, okay, lassen wir den Fall
ruhen. Ich sackte auf meinem Stuhl zusammen und dachte, dass ich vielleicht
wirklich nichts weiter als ein Trottel war. Alle Wahrscheinlichkeit stand
dafür, das stritt ich gar nicht ab. Und doch kam es mir nicht richtig vor, dass
man einen Mann so bloßstellte, und auch noch im Speisezimmer des Hauses, in
dem er seine Kindertage verbracht hatte.
    Und dann
nahm Frank - ruckartig wie ein Roboter - seinen Kopf aus dem Teller. Mit
verhangenem und doch seltsam entschlossenem Gesichtsausdruck, wie ein Mann,
der auf Befehl von ganz oben handelte, stand er auf und schob seinen Stuhl
zurück, ging um den Tisch herum und fing an, Harry zu würgen.
    Ein paar
Sekunden lang saßen wir sprachlos da und schauten zu, wie Teller flogen, Gläser
zerbrachen, Stühle umkippten. Dann fingen die Mädchen an zu kreischen. Im
selben Augenblick brachen die Kleindarsteller am Tischende in Hurragebrüll aus
und stiegen auf ihre Stühle, um besser

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