Murray, Paul
denen«, sagte ich und überließ sie ihrer Sockenrubbelei, die hoffentlich zu
Bels Beruhigung beitrug. Ich mochte nicht, wenn sie sich aufregte. Man sah es
ihr vielleicht nicht an, aber sie war ein fürchterlicher Angsthase. Wegen der
belanglosesten Dinge konnte sie sich völlig verrückt machen. Sie war schon
immer so gewesen, schon als kleines Mädchen. Als andere Kinder noch an den
Weihnachtsmann und die Zahnfee glaubten, quälte sie die Vorstellung vom Tod
unserer Eltern. Wenn Vater und Mutter das Haus verließen, war sie davon
überzeugt, dass sie nicht mehr zurückkommen würden. Sie erzählte ihnen nie
davon, aber wenn das Auto aus der Einfahrt verschwunden war, ging sie in ihr
Zimmer und blieb dort regungslos sitzen und dachte nur Gutes über sie, bis sie
sicher wieder zu Hause waren. Und das war nur ein Beispiel aus ihrem selbst
für damals schon breiten Ängstespektrum. Sie hatte Angst, dass sie etwas
verlieren könnte. Sie hatte Angst, dass sie etwas zerbrechen oder dass etwas
auslaufen könnte. Sie hatte Angst vor Räubern und gefährlichen Autofahrern. Sie
hatte Angst davor, was nach ihrem Tod aus ihren Puppen würde. Bezüglich des
Königreichs der Tiere hatte sie eine Unmenge an Ängsten: Wo bekamen sie im
Winter ihr Fressen her, wo schliefen sie, wenn die Menschen überall alles
zubauten, wie schafften sie es unbeschadet und ohne fremde Hilfe von einer
Straßenseite zur anderen? All das war jedoch nichts im Vergleich zu den
herkulischen Angstschüben, als unser erstes und einziges Haustier (nicht
gezählt die Pfauen, die für mich auch nicht zählten) in unseren Haushalt Einzug
hielt: ein liebenswerter, wenn auch leicht erregbarer Springerspaniel, der letztlich
noch nicht einmal so lange in unserem Haus weilte, dass es zu einem eigenen
Namen gereicht hätte.
Nahezu im
selben Augenblick, als er zur Tür hereinkam, stellte Bel die Diagnose, dass der
namenlose Hund, ein argloses Geschenk unseres Vaters für uns beide, an einer
Schwindel erregenden Vielzahl von existenziellen Ängsten litte. Im Nachhinein
war es ein klarer Fall von Übertragung: als ob sich mit dem Auftauchen des
Hundes alle Schleusen geöffnet hätten und all das Grauen, das sich
unerklärlicherweise in ihrer kleinen Seele angehäuft hatte, jetzt aus ihr
herausströmen konnte. In den zwei Wochen, die der Hund in Amaurot bleiben
sollte, widmete sie sich ganz der Aufgabe, als Sprachrohr des gepeinigten Tiers
aufzutreten. Sie blieb Nacht für Nacht auf, schlief nicht mehr, wanderte mit
dem brav hinter ihr hertrottenden Hund im Haus herum und berichtete jedem, der
es hören wollte, von seinen Kümmernissen. Sie hatte Angst, dass er einsam sei.
Sie hatte Angst, dass er Hunger haben könnte. Sie hatte Angst, dass er zu
abgerichtet oder zu wenig abgerichtet sei. Sie hatte Angst, dass ihn sein
Halsband drücken könnte. Sie hatte Angst, dass er anfinge, sich für einen
Menschen zu halten, und sich dann deshalb minderwertig fühlte, weil er keine
Haut, sondern ein Fell hatte. Sie hatte Angst, dass er sich nicht ausgefüllt
fühlte. Sie hatte Angst, dass er sich nackt fühlen könnte, seine Eltern
vermisste, sich vor der Dunkelheit fürchtete, sich ärgerte, weil er sich nur
mit Bellen verständlich machen konnte, sich schämte wegen seiner Flöhe, nicht
verstünde, dass er in der Abstellkammer schlafen musste. Auch in der Schule
hörte sie nicht auf, darüber zu reden, und die Trennung von dem Hund machte
alles nur noch schlimmer. Es dauerte nicht lange, und ihre Mitschüler waren so
besorgt, dass der Lehrer den ganzen Tag nichts anderes zu tun hatte, als sie
davon zu überzeugen, dass es unserem Hund gut ginge. Eines Nachmittags
schließlich rief der Rektor Mutter an und deutete mit genervter Stimme an, es
sei an der Zeit, etwas zu unternehmen. Noch bevor meine Mutter antworten
konnte, war der Hörer an die tränenerstickte Bel weitergereicht worden, die
Mutter fragte, ob sie bitte, bitte den Hund ans Telefon holen könne. Da reichte
es Mutter. Als wir nach Hause kamen, war der Hund weg. Mutter sagte nicht, wo
er war, nur, dass sie ihn »zurückgebracht« habe. Sie weigerte sich, auch nur
ein einziges weiteres Wort darüber zu verlieren.
Seltsamerweise
nahm Bel die Neuigkeit ziemlich ruhig auf, und schon bald schien sie den Hund
völlig vergessen zu haben. Vielleicht hatte er seinen Zweck erfüllt. Wie durch
ein Wunder hatte sich ihre Ängstlichkeit verflüchtigt. Sie fing an, nach der
Schule Kurse in Sprechtraining und Schauspiel zu nehmen,
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