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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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Friseursalon, die Boutiquen mit ihren trostlosen
pastellfarbenen Kitteln. Die Angestellten des Zeitungshändlers befanden sich
in einem Zustand fortwährender Regression: Sie schienen auf der Leiter der
Evolution gleich mehrere Sprossen auf einmal heruntergehüpft zu sein. Von
>Bitte< und >Danke< hatten sie sich schon vor langer Zeit verabschiedet;
und eines Tages würde ich den Laden betreten und alle hockten auf dem Boden,
nagten an Knochen und huldigten dem Feuer. Ich bezweifle, dass sie mir als
Vasallen von großem Nutzen gewesen wären.
    Nichtsdestotrotz
war der Zeitungsladen das Ziel, das ich jetzt ansteuerte. Auf frisch verlegten
Platten mit Kopfsteinpflastermuster schob ich mich vorsichtig durch eine
Walpurgisnacht aus Damen mittleren Alters, deren Haare gebleicht waren, die
Kunstlederjacken trugen und kreischende Kinder herumzerrten. Der Horizont auf
der anderen Straßenseite wurde beherrscht von einer riesigen Reklametafel: » irelandbank: Wir sind immer für Sie da!«, stand
darauf, »wo Wege für ein schöneres Leben für unsere Kunden.« Was mir
als gutes Omen für mich und meine missliche Lage erschien. Doch dann schaute
ich mir das Bild unter der Schrift an, auf dem die versammelten Angestellten
der Irelandbank freudlos in die Kamera winkten. Es waren tausende: eine stumme
Armee, die in uniformen blauen Jacken steckte, deren entsetzlicher Schnitt sie
erst recht bedrohlich erscheinen ließ.
    Das
Schaufenster des Zeitungsladens war bepflastert mit Kleinanzeigen auf bunten
Karteikarten. Ich las von oben nach unten - Kindermädchen, Rasenmähen,
Katzenjunge, Mathenachhilfe - und fand schließlich, wonach ich suchte.
     
    LUCHSAUGE.

Eheliche Untreue? Erpressung?
Mobbing am Arbeitsplatz?
    Das Luchsauge sieht alles. Wir
bestätigen Ihren Verdacht
    Und beruhigen Ihre Seele.
    Goldsiegel-Erfolgsgarantie.
     
    Ich
notierte die Nummer und machte mich auf die Suche nach einer nicht verwüsteten
Telefonzelle.
    »Ja?«,
sagte eine vorsichtige Stimme. Sie klang tief und nuschelig, als wolle sein
Besitzer noch den kleinsten Hinweis auf seine Identität vermeiden.
    »Spreche
ich mit dem Luchsauge?«, sagte ich.
    »Möglich«,
sagte die Stimme.
    »Mein Name
ist Cha...«
    »Keine
Namen!«, sagte die Stimme sofort.
    »Na schön,
also mein Name ist ... C, und ich benötige Ihre Hilfe.«
    »Eheliche
Untreue? Erpressung? Mobbing am...«
    »Nein,
nein, nichts davon. Ich habe einen Burschen im Haus, der mir meine Möbel
stiehlt.«
    »Oh«,
sagte das Luchsauge. »Sind Sie sicher, dass es sich nicht um eheliche Untreue
handelt?«
    »Ja«,
sagte ich. »Es geht um den Freund meiner Schwester.«
    »So, so«,
sagte das Auge lüstern. »Sie wollen ein paar Fotos, stimmt's?«
    »Nein.
Hören Sie zu, Luchsauge, können Sie was für mich tun oder nicht?«
    »Kommen
Sie in mein Büro«, sagte das Auge. »The Savannah. Nummer 118. Kommen Sie
allein. Das Luchsauge akzeptiert Bargeld und alle gängigen Kreditkarten.«
    »Schön«,
sagte ich.
    »Die
Entwicklung von Fotos kostet allerdings extra, und das Luchsauge behält sich
vor, Negative zu behalten, die ihm gefallen...«
    Er
beschrieb mir den Weg zu seinem Büro, das eigentlich mehr eine kleine
Doppelhaushälfte in einer Siedlung mit identischen Doppelhäusern ganz in der
Nähe war. Ich klingelte, und nach einer Serie von Schließgeräuschen stand eine
vertraute Gestalt vor mir: Es war kein anderer als unser phlegmatischer
Postbote, der immer nach Gin roch und die Post nur dann austrug, wenn ihm
danach war.
    »Was...
?«, sagte ich.
    »C?«,
sagte er.
    »Aber Sie
sind doch...«
    »Keine
Namen«, sagte er, schaute verstohlen nach links und nach rechts und winkte mich
herein. Er selbst verschwand sofort in den Wasserdampfschwaden, die im Flur
hingen. Ich folgte ihm, so gut ich konnte, und gelangte in einen Raum, in dem
der Dampf noch dichter war. Ich machte ein paar blinde Schritte und stieß gegen
etwas, das sich als Tisch entpuppte, auf dem ein voller Postsack stand. Zu
beiden Seiten des Sacks lag ein Haufen Papier:
    Der eine bestand aus geöffneten
Umschlägen, der andere mutmaßlich aus deren vormaligem Inhalt. Hunderte von
Bögen mit handschriftlicher und maschinegeschriebener Korrespondenz.
    Gelegentlich
rissen die Dunstwolken auf, und so konnte ich mir nach und nach den Rest meiner
Umgebung zusammenpuzzeln. Wir waren in einer Küche. Die Fenster waren mit
Kondenswasser bedeckt. Auf Herd und Arbeitsplatte dampften gleichzeitig
mehrere Töpfe und Pfannen. Auf jedem Gefäß ruhte auf

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