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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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einem gewissen Stil zu leben...«
    »Sprezzatura«, sagte ich.
    »Genau«,
sagte er.
    Ich legte
ihm dar, wie ich statt einer Arbeit nachzugehen versucht hätte, dem normalen
Tagesablauf von Amaurot wieder einen Geist von sprezzatura einzuhauchen. Yeats überraschte die Geschichte mit der Bank nicht im
Geringsten. Tatsächlich hasste er die Moderne noch mehr als ich. »Das Leben der
Menschen heutzutage ist derart unbedeutend«, jammerte er. »So klein und
mühselig. Zu aristokratischen Zeiten konnte der Mensch sich entwickeln, konnte
sich selbst zu etwas formen, das von Dauer war.« Er schüttelte düster den Kopf
und ließ das Kinn in die Hand sinken. »Wenn ich im Halbdunkel auf der O'Connell
Bridge stehe und die dissonante Architektur betrachte und all die elektrischen
Zeichen, in denen die Heterogenität der modernen Welt Gestalt angenommen hat,
dann steigt aus dem dunklen Teil meines Ich ein unbestimmter Hass in mir
auf...«
    »Ja, ja.«
Und wenn man nicht einschritt, ging das den ganzen Abend so weiter. Ȇbrigens,
irgendwelche Gedichte geschrieben in letzter Zeit?«
    Erst
zierte er sich immer, und im nächsten Augenblick hüstelte er dann und
brummelte, dass er in der Tat an ein paar Sachen herumgebastelt habe. Dann
baute er sich vor dem Kamin auf, in einer Hand die Blätter, in der anderen
hielt er sich die Brille vor die Augen, und fing an mit seiner langweilig
leiernden Stimme zu lesen: »Ich hörte hysterische Frauen
eifern, sie hätten Palette und Fiedelbogen satt...«
    »Sekunde...«
    »Ja?« Er
schaute auf.
    »Das ist
doch hoffentlich nicht eins von diesen Schwierigen, oder? Ich meine, diese
Schlampt-gegen-Bethlehem-gonggequälte-See-Geschichten, die kein Mensch
versteht?«
    Yeats
hielt kurz inne und sah mich mit kühlem, spöttischem Lächeln an.
    »Verstehen
Sie mich nicht falsch, die sind gut«, stellte ich schnell klar. »Aber warum
machen Sie keine mehr wie früher? Wie diese Märchengeschichte ... Komm
hinweg, du Menschenkind, zu den Wassern, zu dem Wind ... so
was?« Das waren nämlich die, die Vater immer für Bel und mich rezitiert hatte,
wenn wir an der Klippe standen.
    »Ich
fürchte«, sagte Yeats und schnitt eine ausgesucht höfliche Grimasse, »dass das
nun mal die Gedanken sind, die einen alten Mann heimsuchen.«
    »Ja,
schon, aber die neuen sind nicht gerade die Art Gedichte, die jemand liest und
denkt, >Hey, da ist Dampf dahinter<, mit diesem Burschen Yeats würde ich
gern mal 'n Bier trinken gehen...«
    »Das ist
nicht das Ziel von Poesie«, sagte er dann, drehte sich um, ging in die Küche
und fing an, in der Spüle mit dem Geschirr herumzulärmen.
    Meistens
jedoch gingen wir dem entzweienden Thema Poesie aus dem Weg, und dann konnten
unsere Unterhaltungen stundenlang andauern, bis tief in die Nacht. Yeats
mochte besonders gern Geschichten über Vaters Arbeit, darüber, wie er aus
Reihen von Polymeren auf einem weißen Zeichenbrett ein einziges Allerweltsgesicht
in hundert verschiedene verwandeln konnte, die, wenn man sie anschaute, so
schrill waren wie das Geräusch, wenn man mit Stahl auf Stein schlägt. Manchmal
wurde er so aufgeregt, dass er sich zu mir vorbeugte, die Ellbogen auf die
Knie stützte und über Masken und Anti-Ichs schwadronierte, dass man sich -
wolle man sein Leben voll ausleben - eine neue Persönlichkeit konstruieren
müsse, die das genaue Gegenteil von der realen sei. Vater hatte auch solche
Sachen gesagt. Aber auch bei ihm habe ich nie so getan, als hätte ich irgendwas
davon verstanden.
    Wir
sprachen oft über die Liebe. Anscheinend hatte keiner von uns ein besonderes
Gespür dafür. Ich erzählte ihm von Laura und dem idiotischen Tohuwabohu mit
Patsy und Hoyland und von dem wunderschönen Mädchen im Turm, das ich erst
wenige Minuten, bevor ich das Land für immer verließ, kennen gelernt hatte.
Yeats für seinen Teil hatte es fertig gebracht, der einzigen Frau auf der Welt
zu verfallen, die seine Verse kalt ließen. Ihr Name war Maud Gönne, sie war
eine berühmte Schauspielerin ihrer Zeit und eine umschwärmte Schönheit.
Buchstäblich jahrelang ließ er sich von ihr an der Nase herumführen, bis sie
schließlich einen Polizisten namens MacBride heiratete, einen Säufer, den Yeats
immer verabscheut hatte.
    »Ich habe
nie verstanden, warum Sie nicht einfach aufgegeben haben. Ich meine, als klar
war, dass Sie keine Chance hatten.«
    »So
einfach war das nicht«, sagte Yeats und schaute geistesabwesend zu den
Deckenbalken hinauf. Es war schon spät, und wir

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