Murray, Paul
unwirklich schien, ist dem Gefühl nach
auf einmal sehr viel näher als zuvor ...
Und dann setzt die Musik ein und klingt so schön.
Pachelbels vertraute Melodie, zu Tode genudelt von unzähligen Fernsehwerbespots
für Autos, Lebensversicherungen, Luxusseifen, von Straßenmusikanten im
schwarzen Anzug, die den Touristen im Hochsommer das Geld aus der Tasche
ziehen, diese Melodie, die immer wieder bemüht wird, um nostalgische Eleganz
heraufzubeschwören, begleitet von hochnäsigen Kellnern mit Tabletts voll
winziger Käsewürfel - heute erscheint sie dem Publikum gänzlich neu, fast
schon schmerzhaft in ihrer Zerbrechlichkeit. Was macht sie so anrührend und
schmelzend, so verstörend (für die Älteren unter den Zuschauern, die sich von
dem heutigen Abend lediglich angenehme Langeweile erwartet haben und nun einen
Kloß im Hals spüren) persönlich! Es liegt
vielleicht an dem Horn, auf dem der wuchtige Knabe in dem silbernen Anzug
spielt, ein neumodisches Instrument, das aussieht, als wäre es unter einen
Lastwagen gekommen, aber Töne von sich gibt, wie man sie noch nie gehört hat -
heisere, verlorene Klänge, bei denen man einfach nur...
Und dann kommt die Stimme dazu, und man sieht förmlich,
wie ein Schauer durch die erlauchte Menge läuft. Denn es steht kein Sänger auf
der Bühne, und da in Pachelbels Kanon kein Gesangspart vorgesehen ist, kann man
es den Hörern durchaus nachsehen, dass sie es fälschlich für eine
Geistererscheinung halten, ein Saalgespenst, von der Schönheit der Musik
aufgerührt und förmlich zum Mittun gezwungen, zumal die Stimme - die eines
Mädchens - etwas unwiderstehlich Betörendes hat, schlicht, unirdisch, ohne
überflüssiges Beiwerk ... Doch dann erspäht ein Zuschauer nach dem anderen
unter dem Mikroständer zur Rechten ein, äh, ganz gewöhnliches Handy. Aber wer
ist sie? Und was singt sie da?
You fizz me up like Diet Pepsi
You make me shake like epilepsy
You held my hand all summer long
But summer's over and you're gone
Heiliger Strohsack - das ist Bethani ! Neues,
aufgeregtes Gemurmel, die Jüngeren im Publikum verdrehen die Hälse und zischen
es Eltern, Tanten, Onkeln ins Ohr - es ist »3 Wishes«, der Song, den sie
geschrieben hat, als es mit ihr und Nick von Four to the Floor aus war und sie
wieder bei ihrer Mum eingezogen ist; auf den Fotos aus der Zeit hat sie immer
total schmuddelige Klamotten angehabt und ziemlich fett ausgesehen - manche haben
behauptet, das wäre alles bloß, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber wie kann man
so was sagen, wenn man das hier hört?
I miss the bus and the walk's
so long
I got split ends and my homework's wrong
There's a hole in my sneaker and gum on my seat
And the world don't turn and my heart don't beat
- singt das Mädchen nun, Worte so voller Sehnsucht und Einsamkeit,
durch das Knistern des Telefons nur noch verstärkt, dass selbst Eltern, die Bethani mit Misstrauen oder Ablehnung begegnen (im Fall der Väter häufig mit einer
Beimischung von schändlicher Faszination), sich von den Gefühlen darin
mitreißen lassen - Gefühlen, die sich in dieser Version, ihres R'n'R-Arrangements
entkleidet und auf das Fundament der dreihundert Jahre alten, melancholisch um
sich kreisenden Musik verpflanzt, als herzzerreißend und zugleich irgendwie
tröstlich offenbaren, weil ihre Traurigkeit jedermann zutiefst vertraut ist.
And the sun don't shine and the rain don't rain
And the dogs don't bark and the lights don't change
And the night don't fall and the birds don't sing
And your door don't open and my phone don't ring
Und so hört man, als der Refrain wiederkommt, junge
Stimmen aus dem Dunkel mitsingen:
I wish you were beside me just so I could let you
know
I wish you were beside me I would never let you go
If I had three wishes I would give away two,
Cos I only need one, cos I only want you
- sodass es in diesen paar Augenblicken tatsächlich
scheint, als könnte Ruprecht doch richtig liegen, als würde alles, oder zumindest
das kleine Eck davon, das die Turnhalle von Seabrook ausmacht, im Gleichklang
mitschwingen, in dem einen Gefühl, das man im Lauf des Lebens millionenfach zu
tarnen, aber nie ganz zu verbannen lernt - das Gefühl der Abgetrenntheit und
unüberwindlichen Entfernung von allem; fast kommt es ihnen vor, als sei diese
seltsame Stimme aus dem Nichts das Universum selbst, ein versteckter Aspekt von
ihm, der sich kurzzeitig über das Getöse von Raum und Zeit erhebt, um sie alle
zu
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