Murray,Paul
nicht herab. Nach einem Moment öffnet Carl die Augen. Alle vier Prolls
starren auf seinen Arm. »Fuck!«, sagt Pickel. »Der gehört doch in die Klapse,
der Wichser.«
Es ist
November.
Der
schmale Weg zum Seiteneingang ist rutschig von platt gedrückten, vom Regen
durchweichten, mit Splitt vermischten Blättern. Es ist nicht mehr so lustig,
sie in den Kragen gesteckt zu kriegen oder auch auf dem Bettlaken vorzufinden,
wenn man die Decke zurückschlägt. Alles riecht nach Fäulnis, die der Raureif
morgens allerdings verbirgt, fast bis mittags, wenn die wässrige Sonne ihren
matten Zenit erreicht.
Am
Samstagvormittag trudeln die ersten Internatsschüler ein, und am Montag beginnt
für alle wieder der Unterricht. Anfangs wird die Trübsal der Rückkehr durch
die Aufregung des Wiedersehens teilweise aufgehoben. Nach einer einzigen Woche
in der Welt draußen - diesem Karussell, diesem Strom der Abenteuer! - gibt es
mehr zu erzählen als nach einem ganzen Schultrimester in diesem Saftladen, in
dem die Zeit stillsteht. Man hat literweise Bier auf ex getrunken und sich bis
zur Bewusstlosigkeit vollaufen lassen. Man hat aus Versehen oder mit Absicht
Sachen in Brand gesteckt. Man war in Disney-World, man ist von Hunden gebissen
worden, man hat nicht jugendfreie Filme gesehen. Man hat sich die Mandeln
herausnehmen lassen, war beim Kieferorthopäden, beim Friseur, hatte sein erstes
Mal. Vaughan Bradys Ohren sind verbunden - er ist mit dem Kopf zwischen zwei
Gitterstäben stecken geblieben, als er nach einen Fünfeuroschein geangelt hat.
Patrick »The Knowledge« Noonan kommt mahagonibraun von Malta zurück; er könnte
geradezu für einen Schwarzen durchgehen, sehr zur Bestürzung von Eoin »MC Sexecutioner«
Flynn, in dessen Nähe Patrick jetzt spitze Bemerkungen von wegen »Weißer Mann«
und »Bleichgesicht« fallen lässt.
Doch mit
jeder Sekunde, die vergeht, macht sich wieder die morbide Schwere der Schule
bemerkbar: Die vertraute Trägheit setzt wieder ein, bald sind die Begegnungen
mit der Außenwelt kaum noch mehr als verschwommene Träume, ein wilder Haufen
von Formen und Farben, die so schnell verblassen wie Patricks Bräune, und am
Ende des ersten Schultages ist es, als wären die Jungen nie weggewesen.
»Das ist,
als wären wir nie weggewesen, nur schlimmer«, korrigiert Dennis, der in
Leichenhaltung auf Ruprechts Bett ausgestreckt liegt. Vor dem Fenster wird es
bereits dunkel, die Uhren sind zurückgestellt worden, und bis Weihnachten wird
der schmale Vorrat an Sonnenschein, den sie noch haben, jeden Tag weiter
schrumpfen, bis kaum noch etwas davon übrig ist.
»Ha, ha!
Jetzt hab ich dich, du kleiner diebischer Kobold«, lässt Mario sich vernehmen,
der über ein winziges, futuristisch wirkendes Handy gebeugt sitzt.
»Am
liebsten war ich tot.« Dennis ist in besonders schlechter Verfassung, nachdem
ihn seine Stiefmutter in Athlone eine Woche lang zur Novene in die Kirche
mitgeschleift hat. »Ich frag mich, warum ich nicht einfach sterbe. Ich hab doch
überhaupt keinen Grund zu leben.« Er legt sich zurück und schließt die Augen.
»Vielleicht wenn ich hier ganz still liegen bleibe, vielleicht kann ich dann
einfach ... aufhören ... zu ... leben ...«
»Stirb gefälligst
auf deinem eigenen Bett«, murmelt Ruprecht, ohne von seinen Berechnungen
aufzusehen.
»Jetzt
reicht's, Blowjob, du bist aus meinem Testament gestrichen«, sagt Dennis'
Leiche, dann setzt sie sich plötzlich auf - aus der Stereoanlage tönt Bethani.
»Ich fass es nicht, Skip, du spielst schon wieder diesen bescheuerten Song?«
»Na und?
Wo ist das Problem?«
»Die ersten vierhundert
Mal war's kein
Problem.«
»Mach dir
nichts draus, Skip«, sagt Geoff. »Der ist nur neidisch, weil er noch nie
verliebt war.«
»Ich hab
nichts dagegen, wenn jemand verliebt ist«, sagt Dennis. »Ich hab nur was
dagegen, wenn er einen dauernd damit volllabert, obwohl die Sache reine Theorie ist.«
»Von wegen
Theorie!« Skippy läuft rosa an.
»Ja, klar,
das superheiße Frisbeemädchen packt dich und schleift dich von der Party weg,
und ihr zwei rennt draußen im Dunkeln rum, und dann küsst sie dich?«
»Genau so
war's!«
»Sie? Hat dich geküsst? Jetzt mach
aber mal halblang, Skippy.«
»Du hast
uns doch zusammen rausgehen sehen! Du hast mich doch zu ihr hingeschubst, schon
vergessen?«
»Ja.«
»Wir haben
mit Mario geredet - du weißt doch, Mario, du hattest schon bei den ganzen
Mädels verschissen. Die haben nur immer gesagt, sie müssten
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