Murray,Paul
Oberhammer. Nialls Schwester geht aufs
St. Brigid's, in die Zehnte. Sie ist in der Theater-AG und spielt dieses Jahr
im Weihnachtsstück eine Hauptrolle.«
»Was führen die denn auf?«, fragt Geoff.
»Oliver.«
»Oliver - in einer Mädchenschule«, sagt Mario angewidert. »Das macht doch null
Sinn.«
»Also jedenfalls sind sie und eine andere nach der
Schule dageblieben, um noch mal ihre Szenen zu proben. In einem Raum neben der
Turnhalle. St. Brigid's ist ein bisschen so wie hier, mit einem neuen Teil und
einem alten. Der alte Teil wird kaum noch benutzt. Da gibt's einen Lateinraum
und einen Handarbeitsraum und so. Und dann noch einen Raum, der immer
abgeschlossen ist. Wenn man die Nonnen fragt, sagen sie, das ist nur ein alter
Abstellraum, der ist abgeschlossen, weil der Boden verfault ist, und es ist zu
gefährlich, da reinzugehen. Aber da kursieren jede Menge Geschichten, zum
Beispiel, dass sich ein Mädchen da drin erhängt hat, oder dass einmal, als eine
Nonne die Asche aus dem Kamin geräumt hat, der Teufel den Schornstein
runtergekommen ist, und deshalb haben sie die Tür abgeschlossen.«
Die anderen sind jetzt ganz Ohr, selbst Ruprecht baut
seine Geräte leiser ab als vorher.
»Okay, also, an einem Abend vor ein paar Wochen -
ungefähr um die Zeit von der Party, glaub ich - sind Nialls Schwester und ihre
Freundin in dem Raum am Proben und hängen sich so rein, dass sie länger
bleiben, als sie eigentlich wollten.«
»Die Freundin, ist die scharf?«, will Mario wissen.
»Nialls Schwester hab ich mal gesehen - nein, danke. Aber die Freundin?«
»Ich kenn sie nicht«, antwortet Dennis. »Und das tut
jetzt auch nichts zur Sache.«
»Ja, ja, erzähl weiter.«
»Also jedenfalls, auf einmal merken die zwei, dass es
ganz kalt geworden ist. Eiskalt. Sie
beschließen, für den Abend Schluss zu machen, und gehen zum Haupteingang, da
packt die Freundin Nialls Schwester am Arm und fragt sie, ob sie was hört. Sie
bleiben stehen und horchen und horchen, und da hört Nialls Schwester es auch:
Musik, ganz leise. Von irgendwo hinter ihnen. Sie schauen sich an. Es ist nach
fünf, eigentlich kann niemand mehr im Haus sein. Sie gehen den Flur wieder
zurück. Die Musik ist immer noch ganz leise, man kann sie kaum hören, so, als
ob sie von ganz weit weg kommt. Aber woher sie kommt, ist klar: aus dem
verschlossenen Raum.«
Die Stille um die Zuhörer vertieft sich.
»Nialls Schwester sagt zu ihrer Freundin, sie soll an
die Tür klopfen. Die Freundin sagt, Nialls Schwester soll's machen. Nialls
Schwester weigert sich aber, und die Freundin klopft. Keine Reaktion. Aber die
Musik spielt weiter -«
»Was für Musik?«, fragt Geoff.
»Schöne Musik. Mit Harfen und so.«
»Genau wie in der irischen Geschichte«, sagt Geoff mit
rauer Stimme.
»Also, sie klopfen an, und dann rufen sie, >Hallo,
ist jemand da drin?< Keine Antwort. Nialls Schwester dreht den Knauf. Abgeschlossen
natürlich. Aber die Freundin von Nialls Schwester hat Schlüssel. Der
Hausmeister hat ihr welche gegeben, damit sie zusperren können, wenn sie
gehen. Sie will sie aber nicht probieren. Sie hat Angst, sie will weg und es
einer von den Nonnen sagen. Aber Nialls Schwester weiß, dass die Nonnen sie nie
im Leben in den Raum lassen werden. Das ist jetzt die Chance. Sie fangen also an, die Schlüssel auszuprobieren. Vierzig
Schlüssel sind an dem Ring, aber keiner passt. Sie probieren den letzten, und
dann schauen sie auf die Tür, total durcheinander. Sie hören immer noch die
schöne Musik, jetzt sogar lauter. Da dreht Nialls Schwester den Knauf noch
mal, warum, weiß sie nicht. Und diesmal geht die Tür auf.«
Geoff, Mario und Skippy starren Dennis aus großen Augen
an, wie drei Waschbären im Scheinwerferlicht. Ein Stück abseits spielt Ruprecht
unbeeindruckt mit seinem Asthmaspray herum.
»Die Freundin sagt: >Also, wir müssen definitiv hier
weg und jemanden holen<, aber Nialls Schwester hat die Tür schon aufgeschoben.
Hinterher hat sie gesagt, sie war von der Musik wie in Trance. Knarrrz, macht es. Die zwei klammern sich aneinander und gehen rein. Und was
sehen sie?«
»Was?«, flüstert Geoff.
»Nichts«, antwortet Dennis.
»Nichts?«
»Nichts. Der Raum ist gähnend leer.«
»Und ... und die Musik?«, fragt Mario mit erstickter
Stimme.
»Die hören sie immer noch, glockenklar. Und da ist auch
ein wunderbarer Duft, wie eine Wiese voller Blumen, obwohl schon fast Winter
ist, und der Raum hat keine Fenster, und alles ist voller Staub
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