Murray,Paul
Halley weg ist, sagt er außer Farley niemandem.
Nach dem, was Slattery Vorjahren
passiert ist, verfolgt ihn die Vorstel lung, die
Schüler könnten dahinterkommen. Aber bis jetzt scheint die Neuigkeit noch nicht
zu ihnen durchgedrungen zu sein. Sein Unterricht läuft sogar ungewöhnlich gut.
Besonders in der Achten: Da er nach Halleys Weggang nichts Besseres zu tun
hatte, hat er seine Ferienlektüre über den Ersten Weltkrieg fortgesetzt und
ist nun in der Lage, sein Thema mit seltener Autorität zu behandeln. Und zu
seiner Überraschung hören die Jungen zu. Sie hören zu, sie melden sich, sie
formulieren Theorien, sodass in diesem Schwebezustand, in dem er darauf wartet,
dass Aurelie zurückkommt und er sein neues Leben anfangen kann, der Unterricht
- der so oft selbst der reinste Grabenkrieg war, ein ungeheures Maß an Mühsal
und Blutvergießen für ein so jämmerlich kleines Terrain - zu etwas wird, auf
das er sich geradezu freut.
Dieses Wochenende ist sein erstes als Single seit fast
drei Jahren. Er hat keine Pläne gemacht und verbringt es größtenteils zu Hause.
Anfangs ist es ganz so wie früher als Teenager, wenn er abends allein zu Hause
war. Er kann aufbleiben, so lange er will, Musik hören, so laut er will, essen,
was er will, trinken, was er will, Pornos herunterladen, in Boxershorts
herumlaufen. Um sieben ist er betrunken, um acht ist der Reiz des Neuen dahin,
und er lümmelt am Küchentisch und schaut zu, wie in der Mikrowelle eine
Tiefkühlfrühlingsrolle auftaut. Plötzlich hört er, wie sich der Schlüssel im
Schloss dreht, und Halley kommt herein.
Beide erstarren, sie am Lichtschalter, er am Tisch. Es
ist ein in seiner kalten, ungemilderten Unmittelbarkeit elektrisierender Moment
- nicht direkt, als würde man ein Gespenst sehen, eher als würde man am Gesicht
des anderen ablesen, dass man selbst zum Gespenst geworden ist.
»Ich dachte, du bist nicht da«, sagt Halley.
»Ja« - mehr fällt Howard nicht ein. Er wünscht, er
hätte lange Hosen an. »Kann ich dir was anbieten? Tee?«
Er weiß nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten
soll. Demütig? Beflissen? Zärtlich? Gelassen? Doch die Frage erübrigt sich.
»Ich werde erwartet«, sagt sie und zeigt nach draußen, wo eine verschwommene
Gestalt in einem Auto sitzt. Sie geht ins Schlafzimmer und beginnt Sachen in
einen Karton zu werfen. Er wartet in der Küche, bis sie fertig ist, und nach
etwas über einer Viertelstunde rauscht sie wieder durchs Haus und wünscht ihm
mit der ganzen Wärme eines Anwaltsbriefs eine gute Nacht. Dann ist sie weg, und
er bleibt allein zurück und kann, wenn er will, ins Schlafzimmer gehen, um
nachzusehen, was sie mitgenommen hat. Er trinkt sein Bier aus und geht früh ins
Bett, aber er kann nicht schlafen. Der hinterbliebene Hund von gegenüber heult
neuerdings bis in die frühen Morgenstunden, lang gezogene Laute voller Wut und
Trauer um seine Gefährtin. Howard liegt, den Blick zur Decke gerichtet, mehrere
Stunden wach und lauscht dem Heulen, dann steht er mit einem Seufzer auf, geht
wieder in die Küche und setzt sich mit einem seiner Bibliotheksbücher (mittlerweile
überfällig und mit einer Verzugsgebühr von einem Penny pro Woche belegt, wie er
dem Leihzettel auf dem Vorsatzblatt entnimmt) an die Frühstückstheke.
Inzwischen hat er so viele Bücher über den Krieg
gelesen, dass er Gefahr läuft, ein Freak zu werden; er hat sogar angefangen, eigene
Ideen zu entwickeln. Irgendwann im Verlauf seiner Lektüre hat er festgestellt,
dass sich der Konflikt in zwei getrennten Kriegen verfestigt hat. Der erste,
der Krieg der Generäle, der Professoren und auch des öden Schulbuchs, wimmelt
von Ursachen, Strategien und bedeutenden Schlachten und wird im moralischen
Licht der sogenannten »Großen Worte« geführt: Tradition, Ehre, Pflicht,
Patriotismus. Im zweiten aber, dem Krieg, den die Soldaten am eigenen Leib
erfahren haben, ist von alldem nichts zu finden. In diesem Krieg scheinen sich
jeder übergeordnete Sinn und selbst die Feindschaft zwischen den beiden Seiten
in nichts aufzulösen, und die einzigen Konstanten sind Chaos, Zerstörung und
das Gefühl, in einer Maschinerie unterzugehen, die zu groß und zu mächtig ist,
als dass man sie verstehen könnte. Die Schlachtfelder - auf den von Pfeilen
übersäten Reliefkarten des Ersten Weltkrieges so präzise eingezeichnet - sind
entwurzelt, flüchtig, verlagern sich ohne Vorwarnung in den Himmel und führen
damit Landmarken, Ortsnamen und Entfernungsangaben
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