Murray,Paul
Dessous. Ich dachte, darum
ginge es im Leben. Und jetzt schau mich an. Was siehst du? Einen gescheiterten
Möchtegern-Kidult.«
Farley
hat eine Vorliebe für derlei düstere Tiraden, aber in Wahrheit teilt er Howards
Gefühle in puncto Tödlichkeit nicht; im Gegenteil, er scheint das »Lehrerleben«
regelrecht zu genießen - den lärmenden Egoismus der Jungen, die Härte und
Schärfe im Klassenzimmer. Howard findet das verwirrend. An einer
weiterführenden Schule zu unterrichten ist, wie mit tausend Plakaten
eingesperrt zu sein, ohne zu wissen, was sie einem sagen wollen. Trotzdem, es
könnte schlimmer sein. Die staatliche Schule einen knappen Kilometer weiter
kümmert sich um die Kinder der St. Patrick Villas, der heruntergekommenen
Wohnsiedlung hinter den östlicher gelegenen Einkaufszentren; von dort kommen
regelmäßig Horrorgeschichten über Lehrer, die mit Eiern beworfen, mit
abgesägten Schrotflinten bedroht werden oder in die Klasse kommen und eine mit
Spucke, Scheiße oder Wichse verschmierte Tafel vorfinden. »Wenigstens sind wir
nicht an der Anthony's«, trösten sich die Seabrook-Lehrer gegenseitig. »Die St.
Anthony's sucht ständig Lehrkräfte«, sagt die Schulleitung nur halb im Scherz
den Lehrern, die sich über irgendetwas beklagen.
Die
Tür geht auf, und Jim Slattery, der Englischlehrer, kommt unter allseitigem
Guten Morgen hereingestürmt.
»Guten
Morgen, Jim«, tönen die Misses Birchall und McSorley.
»Guten
Morgen, die Damen.« Slattery schüttelt die Regentropfen von seinem Anorak und
nimmt seine Hosenklammern ab. »Guten Morgen, Farley. Guten Morgen, Howard.«
»Guten
Morgen, Jim«, erwidert Farley. Howard brummt nur flüchtig.
»Richtig
schön draußen«, bemerkt Slattery, wie an jedem Morgen, an dem es nicht Feuer
regnet, und geht stracks zum Teekessel.
»Schläfer«
Slattery, ein Musterbeispiel für die tödliche Atmosphäre. Auch er ein Ehemaliger,
der seit Jahrzehnten in Seabrook unterrichtet - tatsächlich trägt er an diesem
Morgen dasselbe Sakko wie in Farleys und Howards Schuljahren, mit einem Hahnentrittmuster,
von dem man tränende Augen und Kopfweh bekommt und das Howard an ein Gemälde
von Bridget Riley erinnert. Er ist ein liebenswerter Mann mit watschelndem
Gang, dessen buschige Augenbrauen borstig auf seiner Stirn hocken wie zwei
Yetis, die sich jeden Moment von einem Felsen stürzen können, und er hat nie
die Begeisterung für sein Fach verloren, über das er in langen, weit
ausholenden Sätzen spricht, die zu entwirren den meisten seiner Schüler die
Beharrlichkeit oder die Willenskraft fehlt; stattdessen nutzen sie im Großen
und Ganzen die Gelegenheit für ein Nickerchen - daher sein Spitzname.
»Apropos
hektische Versuche, andere zu bespringen«, erinnert sich Farley, »hast du dir
schon überlegt, wie es mit dir und Aurelie weitergehen soll?«
Howard
sieht ihn stirnrunzelnd an und schaut sich dann um, ob das jemand gehört hat.
Die Misses sind jedoch mit ihren Horoskopen beschäftigt, und Slattery trocknet
sich mit einem Papierhandtuch die Füße ab, während sein Tee zieht. »Ich hab
nicht vor, da irgendwas zu unternehmen«, sagt er leise.
»Ach
ja? Gestern warst du aber ganz schön aufgeheizt.«
»Ich
fand nur, dass es ziemlich unprofessionell von ihr war, so was zu sagen, das
ist alles.« Howard blickt mürrisch auf seine Schuhe.
»Stimmt.«
»So
etwas sagt man einfach nicht zu einem Arbeitskollegen. Und dieses Getue, dass
sie mir ihren Namen nicht gesagt hat, das ist doch kindisch. So toll ist sie ja auch wieder
nicht. Sie hat ein stark übertriebenes Selbstwertgefühl, wenn du mich fragst.«
»Guten
Morgen, Aurelie«, singen die Misses im Duett; Howards Kopf schnellt hoch, und
er sieht sie am Garderobenständer, wo sie ihren modischen olivgrünen Übergangsmantel
aufhängt.
»Wir
haben gerade von Ihnen gesprochen«, sagt Farley.
»Ich
weiß«, sagt sie. Unter dem Mantel trägt sie einen engen Tweedrock und einen
erlesenen cremefarbenen Pullover, der ihre Schlüsselbeine wie Teile eines
unglaublich eleganten Musikinstruments aussehen lässt. Howard kann nicht
umhin, sie anzustarren: Es ist, als sei sie in seine Erinnerung getreten und
hätte ihr Outfit aus der Garderobe all der adretten goldblonden Prinzessinnen
ausgesucht, nach denen er sich in den Einkaufszentren und Kirchen seiner
Jugend vergeblich gesehnt hat.
»Howard
fragt sich, warum Sie ihm nicht sagen, wie Sie mit Vornamen heißen«, sagt
Farley und weicht intuitiv nach der Seite aus, sodass
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