Murray,Paul
zur
Vergangenheitsbetrachtung. Das Gegenteil ist richtig. Die Geschichte wird als
nutzloser Ballast angesehen - im besten Fall etwas, womit man Touristen anlocken
kann, im schlimmsten eine Peinlichkeit, ein Albatros, ein lallender,
inkontinenter alter Verwandter, der partout nicht sterben will. Die Iren sind
ganz auf Zukunft eingestellt - hatte nicht ihr Premierminister sogar gesagt, er lebe in
der Zukunft? -, und jede neue technische Spielerei wird als weiterer Beweis für
die atemberaubende Modernität des Landes begrüßt und dazu benutzt, auf die
ewig Gestrigen und die Vergangenheit einzuprügeln, die kaum noch als das zu
erkennen ist, was sie eigentlich war.
Eine
Zeit lang war Halley vom unaufhaltsamen Fortschritt der Wissenschaft fasziniert
gewesen. Als junge Reporterin in New York, von ihren »realen« Storys weggelockt
durch die Energie des Internetbooms, hatte sie das Gefühl gehabt, mitten im
Zentrum eines Urknalls zu stehen - eines ins Dasein explodierenden neuen
Universums, das alles verwandelte, womit es in Berührung kam. Was jetzt auf
einmal alles möglich war! Die großen Sprünge ins Undenkbare, die jeden
einzelnen Tag passierten! Inzwischen fühlt sie sich angesichts dieser
unablässig sich selbst anpreisenden Wunder immer mehr als Eindringling -
unbeholfen, unangepasst, altmodisch und überflüssig, wie eine Mutter, deren
Kinder sie nicht mehr in ihre Spiele einbeziehen. Und wenn sie an ihrem
Schreibtisch in ihrem Vororthaus sitzt, wird ihr bewusst, dass ihr Leben sich
trotz all der Veränderungen, die sie pflichtgemäß protokolliert, kaum von dem
ihrer Mutter vor fünfundzwanzig Jahren unterscheidet - nur dass ihre Mutter
sich den ganzen Tag um die Kinder gekümmert hat, während Halley ihn in
Gesellschaft kleiner silberner Geräte verbringt, im Dienst einer unersättlichen
Hypothekenbank. Ist also der Ärger, den sie in sich hochkochen fühlt, der
irrationale, ungerechte Ärger, den sie empfindet, wenn Howard nach Hause kommt,
wegen der vielen Stunden, die er fern von ihr verbracht hat, ist dieser Ärger
derselbe, der ihre Mutter immer umgetrieben hat?
Ihre
Schwester sagt, sie sei depressiv. »Die Sorge, dass du so werden könntest wie
Mom, ist geradezu das Schulbeispiel einer Depression. In jedem Lehrbuch über
Depressionen findet man ein Bild von unserer Mom. Gib diesen Scheißjob auf, und
zwar gleich. Ich versteh nicht, warum du's nicht längst getan hast.«
»Wegen
der Arbeitserlaubnis, das hab ich dir schon hundertmal gesagt. Ich kann nicht
einfach kündigen und mir was anderes suchen. In einem Job, von dem ich nichts
verstehe, fördert mich kein Mensch. Also entweder, ich mache das weiter, oder
ich werde Kellnerin.«
»Kellnern
ist doch gar nicht so übel.«
»Ist
es schon, wenn man eine Hypothek abzahlen muss. Das wirst du schon noch sehen,
wenn du älter bist. Da wird's kompliziert.«
»Stimmt«,
sagt Zephyr. Es herrscht eine feindselige Stille, wie sie sich in letzter Zeit
immer wieder in ihre Gespräche einschleicht. Zephyr ist fünf Jahre jünger und
hat gerade mit dem Kunststudium in Providence, Rhode Island, begonnen. Bei ihr
ist jeder Tag reicher an Ideen, Spaß und Abenteuern als der Tag davor; Halley
dagegen hat jeden Tag weniger zu berichten. Es fällt ihr schwer, so zu tun, als
merke sie das nicht, und oft driftet sie mitten im Gespräch in eifersüchtige
Gedankenspiele -
»Was?«
Zephyr hat ihr eine Frage gestellt. »Sorry, die Verbindung ist schlecht.«
»Ich
wollte bloß wissen, ob du irgendwas schreibst.«
»Ach
... nein. Im Moment nicht.«
»Ach«,
sagt Zephyr mitfühlend.
»Halb
so wild«, sagt Halley. »Wenn mich irgendwas reizt, werd ich schon was
schreiben.«
»Na
klar!«, kräht Zephyr begeistert. Halley zuckt zusammen; früher hat sie immer
ihrer Schwester den Rücken gestärkt.
Sie
geht ans Fenster, um den Rauch hinauszulassen. Auf der anderen Straßenseite
führen die beiden Golden Retriever ihrer Nachbarn Freudentänze im Vorgarten
auf, und im nächsten Moment fährt der Nachbar mit dem Wagen vor. Er öffnet das
Tor, bückt sich und vergräbt das Gesicht im blonden Pelz der Hunde; seine Frau
kommt aus der Tür, um ihn zu begrüßen, auf dem Arm ein Baby, und hinter ihr
lugt die hübsche kleine Tochter hervor. Die Hunde tollen herum, als wäre dies
das größte Glück, das ihnen je widerfahren ist. Überhaupt sind alle furchtbar
glücklich.
Wie
sie so da steht, ohne gesehen zu werden, denkt Halley daran, wie Howard, wenn
er dieser Tage zur Tür
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