Muscheln für Mutti: Roman (German Edition)
Schlaf überrannt.
Im Halbschlaf schummern typische Elternaussagen an mir vorüber: »Putzt die Schuhe ab! Räumt euer Zimmer auf! Marsch, ab ins Bett!« Dabei war ich meistens ordentlich, meine Brüder dagegen … »Hör auf zu jammern, sonst geb ich dir ’n Grund!« Am meisten hat es mich immer geärgert, wenn mein Vater mit seinem Lieblings-Spruch bei mir ankam: » Haben wir uns verstanden, Fräulein?« Im Traum reagiere ich entrüstet. » Jetzt sag bloß noch, dass ich eine neongrüne Strumpfhose tragen soll!« Dann hat er mich beim 1. FC Köln angemeldet. Was habe ich mich gefreut! Bis ich erfuhr: bei den Cheerleadern. Irgendwann hat er mich in den Arm genommen und getröstet. » Andi, schon deine Geburt war … kein Kindergeburtstag.«
Nicht? Was denn dann?
Ich werde wach, muss pullern. Und ich muss raus, die Gegenwart einatmen.
Langsam beuge ich mich über das Geländer, sauge die liebliche Luft in meine Lungen und beobachte die vielen kleinen Sterne, die wie eine Lichterkette am schwarzen Himmel aufgereiht scheinen. Was für eine herrliche, ruhige Nacht.
Auf dem schmalen Gang vor den Zimmern will Toni im Bademantel an mir vorbeihuschen, erkennt mich und stemmt ebenfalls die Arme auf die Balustrade.
» Hast mit Harald gesprochen.«
» Ach, du hast uns belauscht?«
Toni lächelt mich an.
» Karma, gut!«
Freitag, 30. Januar
AYE, AYE, KÄPT’N JACK ANDI SPARROW! C
Ausgeschlafen, ich habe ausgeschlafen, und ich fühle mich erholt. Anscheinend wird das heute endlich mal ein echter Urlaubstag, und den lasse ich mir keinesfalls vermiesen! Die Sonne wärmt mich durch die Scheiben, als der Bus brummig Ninh Binh verlässt. Ich strecke die Beine unter den Sitz und döse ganz gemütlich weiter. Super, genau so beginnen Urlaubstage!
» War ’ne schöne Nacht«, sage ich relaxt zu Toni, der an meinem Sitz vorbeikommt.
» Dann hast du auch Frau gehabt?«, grinst er.
Toni hat also wieder im eigenen Revier gewildert. Waidmannsgeil.
Beim ersten Stopp liegt längs der Straße ein Friedhof, der mir auf Anhieb gefällt, weil die Gräber sehr farbenfroh sind und nicht so gefühlsgrau wie in Deutschland. Es sind fast nur bunte Ruhestätten mit vielerlei Verzierungen.
» Alles andere als sterbenslangweilig«, sage ich zu mir selbst. So einen Kirmes-Friedhof hätte ich mir auch für unseren lebenslustigen Vater gewünscht, als er vor Jahren vom Reihenhaus ins Reihengrab umgezogen ist.
Die asiatischen Schriftzeichen kann ich nicht entziffern, sind aber bestimmt auch kreativer als bei uns zu Hause. Ich weiß schon, was mal auf meinem Grabstein stehen wird: »Hier hat er endlich seine Ruhe!«
Ein paar einfache Gräber liegen in Ackerfurchen. Es sind nur kleine Erdhügel, die im Wasser ruhen. » Walter, sind das Seebestattungen?«
» Du weißt schon, dass du reifereduziert bist?«, grient er.
» Hey, so macht’s halt mehr Spaß.«
» Stimmt, umso mehr in meinem Alter«, sagt Walter und legt einen Zeigefinger sinnierend an die Schläfe. » Weißt du, was schade ist?«
Ich schüttle den Kopf.
» Der Tod ist das einzige Ereignis, von dem du den anderen nicht erzählen kannst.«
Keine Ahnung, wie ich gestern Nacht im Bett auf die Idee kam, aber ich muss mich vergewissern. » Würdest du mich adoptieren, Walter?«
Er sieht mich sekundenlang verständnislos an.
» Nö.«
» Männo.«
Mit dem Kopf deutet er zu Mutti und meinen Schwestern. » Haben sie dich rausgeschmissen?«
» Schön wär’s.«
» Das würde sich doch gar nicht lohnen. Wenn ich wenigstens einen Titel tragen würde«, sagt Walter.
» Du meinst wie diesen adoptierten von und zu Peinlich-Prinzen?«
» Genau, diese Blattgold-Adeligen.«
» Die sich so protzig im Luxus suhlen.« Mein Gesichtsausdruck schlingert von angewidert zu angetan. » Wobei, überleg mal, was für Frauen wir haben könnten!«
Walter schaut zu Vera. » Schon, aber ich will mich doch nicht verschlechtern.«
Ich knuffe ihm mit der Faust auf den Oberarm. » Sei’s drum, mein neuer Name ist Andi von Walter!«
» Kerl, wenn das mal nicht gegen das Urheberrecht deiner Mutter verstößt.«
Wo kommen denn auf einmal die ganzen Vietnamesen her? Ach ja, das Neujahrsfest, Tet, ist vorbei. In den Ortschaften, die wir nun durchfahren, fächert sich das Angebot wieder vor den Geschäften auf. Überdimensionale Werbeschilder prangen an vielen Häusern direkt vor den Fenstern. Schön sieht das nicht aus, spart aber eine Gardine als Sichtschutz. Wobei ich sicher annehme, dass sich
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