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Museumsschiff (Gaugamela Trilogie) (German Edition)

Museumsschiff (Gaugamela Trilogie) (German Edition)

Titel: Museumsschiff (Gaugamela Trilogie) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Falke
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es auf dem eingeschlagenen Weg nicht weiterging. Aber als Reynolds ihnen das Scheitern so unmissverständlich vor Augen stellte, wollten sie es nicht wahrhaben. Lieber hätten sie sich noch tiefer in ihre Experimente eingegraben, hätten noch mehr Nächte an den Versuchsständen verbracht, als sich sagen zu lassen, dass es seit Langem sinnlos war, was sie hier taten. Direktor Reynolds ließ daher eine Pause eintreten. Er wartete ab, bis sich die Unruhe gelegt hatte. Dann fuhr er in seiner Ansprache fort.
    »Kehren wir zum ersten Gedanken zurück, zum Brettspiel. Angenommen, ich verfüge über einen Vorrat von vierundsechzig Steinen. Dann kann ich damit bis zum siebten Feld gelangen. Ich müsste weitere vierundsechzig Steine zusammenbringen, um auch nur bis zum achten zu kommen. Stattdessen könnte ich mich aber auf die Tugend der Geduld besinnen und mit jedem Schritt nur ein einziges Feld vorrücken. Ich benötigte vierundsechzig Züge, um bis zum letzten Feld zu kommen, aber ich wäre in der Lage, es mit meinen vierundsechzig Steinen zu erreichen. Und vermutlich wäre ich eher da als die Mitspieler, die die Zeit dazu benutzten, abertausende Steine zusammenzubringen.“
    Ein Raunen ging durch die Menge, die sich in dem großen Messezelt versammelt hatte. Reynolds sah, dass die Stimmung sich gewandelt hatte. Die erschöpften und im Innersten entmutigten Techniker blickten ihn auf einmal wie einen Messias an, der ihnen den Weg in das Gelobte Land weisen würde.
    »Unsere Bestrebung“, fuhr er fort, »muss dahin gehen, schneller hintereinander zu ziehen, statt größere Züge durchzuführen. Wenn ich vierundsechzig Einzelzüge in der gleichen Zeit durchführen kann, wie sonst einen Zug über vierundsechzig Felder, habe ich das Ziel erreicht, bei einem Bruchteil des Aufwandes. Wir müssen unsere Anstrengungen in eine grundlegend neue Richtung wenden. Statt den Durchbruch mit immer höherem Kraftaufwand erzwingen zu wollen, müssen wir ihn mit Intelligenz erlisten. Troias Mauern waren durch alle Heere der Welt nicht zu erstürmen, aber sie öffneten sich von selbst, als ein genialer Schachzug ihre Tore sprengte.“
    Jetzt erscholl lauter Jubel. Die Männer und Frauen der angetretenen Einheiten warfen die Helme in die Luft. Seine führenden Ingenieure gratulierten Reynolds. Manche seiner engsten Vertrauten führten sich auf, als sei des Ziel bereits erreicht. Das Protokoll will es jedenfalls, dass Reynolds noch in der selben Stunde zur ersten praktischen Erprobung des neu entdeckten Prinzips schritt. Denn er hatte längst einen Prototyp des neuartigen Verfahrens fertigen lassen, und was er in der Ansprache noch als Vision umrissen hatte, war in einem ersten Anlauf schon zur Testreife gediehen.
     
     
     
    Der Chronist
     
    Diese Rede ist seit langem Allgemeingut. Nach der Schlacht von Sina fand sie Eingang in die Schulbücher. Seither kann jeder College-Absolvent sie auswendig herunterleiern. Institute befassen sich mit ihrem Wortlaut und füllen Bände mit der Interpretation einzelner Ausdrücke. Sie untersuchen ihre Metaphern und diskutieren die rhetorische Angemessenheit der Gleichnisse. Die eigentliche Frage, die sie aufwirft, wurde unseres Wissens jedoch noch nicht gestellt. Sie hätte sich mit dem Phänomen der Gleichzeitigkeit zu beschäftigen. Es ist eine Tatsache, dass eine Reihe nicht unmaßgeblicher Erfindungen an zwei oder mehreren Orten gleichzeitig getätigt wurden. So soll schon das Feuer und sein praktischer Gebrauch, die zur Definition des Menschseins und zum Inbegriff seines schöpferischen Vermögens wurden, an mindestens zwei Stätten, vermutlich sogar an vielen verschiedenen Orten der Welt gleichzeitig und unabhängig voneinander zum ersten Mal gelungen sein. Ebenso kann man vermuten, dass andere zivilisationsbegründende Verfahren, wie das Rad, der Kanalbau, die Züchtung bestimmter Nutztiere und -pflanzen, die Schifffahrt und die Schrift, an ganz unterschiedlichen Orten, von unterschiedlichen Menschen unterschiedlichster Kulturen immer wieder hervorgebracht worden sind. Und dies steht nicht nur über den Anfängen und Morgenröten der Menschheit, die sich Ackerbau, Stadtgründungen und Gesellschaftsordnungen aus dem Nichts erfinden musste und die in weit verstreuten, isolierten Inseln entlang der großen fruchtbaren Stromebenen stattfand, sondern auch noch für spätere Zeiten, als Handel und Verkehr längst für flüssigeren Austausch der Enklaven sorgten. Chinesen und Europäer entwickelten

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