Museumsschiff (Gaugamela Trilogie) (German Edition)
gleichen. Eine dritte und eine vierte Gruppe standen abseits am Fuß der überdimensionalen Treppenanlage. Sie wirkten wie Senatoren oder Angehörige einer Priesterkultur, die plaudernd oder beschwörend beieinander standen und auf ein bedeutendes Ereignis warteten. Auf den Auftritt einer Gottheit, die Verkündigungen eines Orakels oder den Vollzug eines Opfers.
»Sir«, störte Taylor mich aus meinen Überlegungen. »Was halten Sie davon, wenn wir ein wenig Licht machen?«
Ich nickte und begab mich auf den Weg zur Stirnwand, um einen besseren Überblick über die ganze Halle zu haben.
»Ich glaube, es wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt dafür«, sagte ich.
Auch Jennifer gab ihre Zustimmung. Wir traten so weit wie möglich zurück, um die Treppe frontal vor uns zu haben. Taylor zog eine der Photonen-Kapseln hervor.
»Ich stelle geringere Intensität ein«, erklärte er. »Dann haben wir genügend Zeit, uns alles anzusehen.« Er vergewisserte sich, dass wir alle die Scanner zur Hand hatten, um das Schauspiel im optischen Spektrum zu dokumentieren. Dann aktivierte er die Kapsel, stellte die Werte ein und schleuderte sie mit aller Kraft in die Höhe. Wie ein Leuchtspurgeschoss raste das kleine Signal davon. Dann detonierte die Kapsel und tauchte die Halle in ruhiges Weißlicht, das eben ausreichte, den Raum bis in den letzten Winkel auszuleuchten.
Vor uns stieg die Treppe auf, eine Abfolge unterschiedlichster Stufen und Plattformen. Ein Rhythmus oder eine systematische Gliederung war nicht festzustellen. Sie mündete in die Rückwand des riesigen Saales, das durchbrochene Maßwerk, durch das wir hereingeklettert waren. Wir erkannten jetzt auf einen Blick, dass es keineswegs so streng und symmetrisch war, wie es uns in dem kleinen Ausschnitt geschienen war. Vielmehr schienen die Rauten, Waben, Gitter und Kassetten eine übergeordnete Struktur zu bilden. Hundert Meter hoch und eben so weit vereinigten sie sich wie ein filigranes Mosaik zu Schwingen oder paarigen Gebilden, die beiderseits der Treppe die riesige Front überfluteten. Ich musste mir die wuchtigen, mehrere Meter dicken Pfeiler ins Gedächtnis rufen, die sich nun zu feinen orientalischen Schnitzereien zusammenfügten, um mir die Dimensionen der Halle zu verdeutlichten, für die dem Auge jeder Anhaltspunkt fehlte. Die oberste Plattform der Treppe ragte hoch über uns auf. Sie war überwölbt von einem breiten Baldachin, in dem ich jetzt die flache Giebelstruktur erkannte, die wir von oben gesehen hatten. Was für ein Wesen mochte auf dieser Bühne seine Auftritte gehabt haben? Was für ein Opfer mochte auf diesem Schrein vollzogen worden sein. Denn dass die ganze Anlage eine im weitesten Sinne kultische Bedeutung hatte, stand für mich mittlerweile außer Frage. Darauf deuteten auch die Skulpturen hin, die die Treppe zu beiden Seiten flankierten. Auf den breiteren Absätzen standen ihrer mehrere. In der perspektivischen Flucht bildeten sie ein Geländer, das die Anlage zu den Seiten hin begrenzte. Sie glichen den Wesen, die am Fuß der Treppe standen, waren aber wesentlich größer und in ihrer Formsprache zugleich schlichter und monumentaler. Sie waren offensichtlich idealisierte Abbilder der kleineren. Manche von ihnen schienen bestimmte Attribute bei sich zu haben, wie man das von unseren Göttern oder Heiligen kennt. Aber keiner der Gegenstände, die sie in ihren Dornfortsätzen trugen oder auf erhobenen Extremitäten vorwiesen, hatte eine Ähnlichkeit mit irgendeinem Ding, das ich schon einmal gesehen hatte. Es waren kultische Artefakte, Dinge wie das christliche Kreuz oder der buddhistische Donnerkeil. In ihrer Gesamtheit wirkten die Standbilder wie eine Prozession riesiger, zum Leben erwachter Hieroglyphen. Die Frontseiten jeder Treppenstufe waren von Reliefs bedeckt. Teilweise bildeten Darstellungen, die den freistehenden Skulpturen glichen, große Friese, teilweise überzogen abstrakte Ornamente, wie sich an der Stirnseite der Halle zu finden waren, diese Absätze. Vor allem in der Durchdringung von gegenständlichem und ornamentalem Schmuck atmeten diese Kunstwerke einen eindeutig religiösen Charakter. Es war ein Tempel. Womöglich war das ganze Schiff eine Art Tempelanlage oder Klosterstadt gewesen. Hatte es sich auf einer kosmischen Pilgerfahrt befunden? Oder stellte es selbst so etwas wie ein fliegendes Wallfahrtsziel dar?
Die Kapsel begann bläulich zu flackern und erlosch dann. Wir vergewisserten uns, dass unsere Scanner das Bild aus
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