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Music from Big Pink: Roman (German Edition)

Music from Big Pink: Roman (German Edition)

Titel: Music from Big Pink: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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die Platte aufnehmen würden. Er drehte sich auf dem Klavierhocker herum, trat das Pedal, um die Saiten zu dämpfen, und sang ein paar Noten. Nach der richtigen Stimmlage suchend, schraubte seine Stimme sich immer weiter diesem zittrigen Falsett entgegen. Dann schloss er die Augen, summte leise die Akkorde, holte tief Luft und sang die Worte:
    »They say everything can be replaced …«
    Er sang sie zum ersten Mal außerhalb jenes schmutzigen Kellers in Upstate New York, sang sie ganz allein für mich, Rick und Skye. Es hörte sich an wie eine Hymne. Die Musik trieb über uns hinweg, wie die Klang gewordene Absolution, wie die Schneeflocken vor dem Fenster, die in dieser schwarzen Januarnacht auf den Central Park herabfielen. Als der Refrain kam, beugte Rick sich vor, ließ den Kopf sinken, die Augen ebenfalls geschlossen, stimmte mit ein, und ihre Stimmen verschmolzen miteinander: Zwei vierundzwanzigjährige Jungs – Säufer, Drogenfreaks, Weiberhelden –, die älter und weiser klangen, als es gut für sie sein konnte.
    »I see my light come shining,
    from the west down to the east …«
    Ein paar Leute schlenderten vom Flur herein und hörten zu. Nicht viele, ich meine, es war nicht, als hätte Dylan sich ans Klavier gesetzt, um ein paar Nummern zu spielen – in diesem Fall hätte die ganze gottverdammte Party wohl Spalier gestanden –, schließlich waren Rick und Richard ja nicht berühmt. Sie waren bloß zwei Jungs in einem Nebenraum dieses Showbusiness-Schaulaufens. Man konnte immer noch den Partylärm vom anderen Ende der Wohnung hören, die Fetzen lapidarer Gespräche und das Klirren der Gläser, während knapp einen Meter von uns entfernt etwas so Fantastisches geschah.
    Richard ließ den letzten Akkord verebben und quetschte noch den letzten Tropfen Gefühl aus der Schlusszeile:
    »I shall be released …«
    Diesen Song zu hören, nach allem, was in den vergangenen paar Wochen passiert war, kam einem Schlag in die Magengrube gleich. Es schien völlig unwirklich, dass alles – so perfekt und unglaublich es auch war – in kürzerer Zeit vorüber war, als man gebraucht hätte, um ein Ei zu kochen, eine Zigarette zu rauchen oder seinen Wagen aufzutanken.
    Richard nahm seine Hände von den Tasten und drehte sich achselzuckend wieder zu uns herum. Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann begannen alle – ich, Rick, Skye, die Leute im Türrahmen – zu klatschen. Richard murmelte irgendeine abwehrende Bemerkung, zündete sich eine Zigarette an und nickte schüchtern in die applaudierende Runde. Ich drehte mich nach hinten, um Skye irgendetwas zu sagen, sah aber nur noch, wie sie hastig aus dem Zimmer schlüpfte, als wollte sie fliehen.
    Ein junger Kerl kam zu uns rüber, stellte sich vor, schüttelte Richard die Hand und stellte ihm Fragen über Musik. Rick sah mich grinsend an und sagte: »Verdammt, kann der Typ singen, oder was?«
    »Allerdings«, antwortete ich leise, noch immer benommen, als hätte der Song gerade mein Innerstes nach außen gekehrt, »der Typ kann singen.«

neun
    »Hear the sound, Willie Boy …«
    Ungefähr eine Woche nach dem Konzert wollte ich mich gerade auf den Weg in die Stadt machen, um ein paar Sachen zu besorgen, als Richard anrief und fragte, ob ich Speed hätte. Sie arbeiteten bis spätnachts im Studio, und er wollte den Durchblick behalten.
    Wir verabredeten uns an der 7 th Avenue, Ecke West 54 th Street. Ich kam aus der U-Bahn hoch und schirmte meine Augen gegen die Sonne ab. Es war einer dieser Spätwintertage in New York City, die einen mit Julisonne und Januarkälte gleichzeitig beglückten, was die ganze Stadt geradezu unwirklich frisch, sauber und leuchtend erscheinen ließ. Ich war spät dran und schlängelte mich im Laufschritt durch das Midtown-Gedränge – der Bürgersteig war voller Sekretärinnen und Anzugträger, die mit den Klamotten für die Reinigung in die Mittagspause eilten oder mit einem Sandwich vom Deli ins Büro zurückkehrten –, als ich Richard vor der Carnegie Hall an einer Telefonzelle lehnen sah. Eine Sonnenbrille auf der Nase und ein Bier in einer braunen Papiertüte in der Hand, las er in der Zeitung, als wäre ihm das alles egal, vor allem die vorbeihastenden Miesepeter, die ihn mit finsterem Blick anstarrten, weil er ihnen deutlich signalisierte, dass sie ihm mitsamt ihrer Welt aus Tabellen, Kunden und dem Fünfuhrzug nach Hause am Arsch vorbeigingen. Scheiße, wenn Richard Manuel gegen diese Spießbürger mal nicht arschcool aussah, wie

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