Muss ich denn schon wieder verreisen?
fragen, wie man den Film wechselt. Im übrigen hast du doch selbst eine.«
»Die liegt im Hotel«, sagte Irene, noch immer in die Luft starrend, obwohl ich nichts entdecken konnte, was sehens- oder gar fotografierenswert gewesen wäre. »Zählst du die Mücken?«
»Quatsch! Ich sehe mir die Zypressen an.«
»Ach ja?« Weshalb denn nur? Schließlich wuchsen diese langen schmalen Dinger hierzulande wie bei uns daheim die Fichten. Wer schaut da noch hin?
»Fällt dir an den drei Bäumen wirklich nichts auf?«
Ich sah sie mir genauer an. »Nein. Oder doch, einer ist rosa. Muß wohl eine andere Sorte sein.«
»Ja, nämlich eine Cupressus rosariae.«
»Sehr interessant«, sagte ich lahm, woraufhin mir Irene nur einen mitleidigen Blick zuwarf.
»Dir kann man auch erzählen, im Himmel sei Jahrmarkt! Deine rosa Zypresse ist genauso grün wie die anderen, nur ist sie bis zur Spitze von einer blühenden Schmarotzerpflanze überwuchert. So etwas sollte selbst dir auffallen!«
»Das nächstemal werde ich darauf achten«, versprach ich. »Aber weil du eben was von Himmel gesagt hast – wo sind eigentlich die anderen?«
»Wahrscheinlich auf dem Weg nach Kapernaum.«
»Klug gefolgert! Und in welcher Richtung liegt das?«
»Auf jeden Fall bergab.« Auch das war anzunehmen, denn wir befanden uns fast auf dem Gipfel des Hügels. »Am besten gehen wir ganz rauf, gucken runter, und dann werden wir sie schon sehen«, schlug sie vor.
Sie hatte nur nicht bedacht, daß der ganze Berg mit Bäumen und Buschwerk bestanden war und das Grünzeug uns jede Sicht versperrte. »Jetzt schauen wir aber alt aus!«
»Schlimmstenfalls gehen wir zum Boot zurück und warten dort.«
Als wir uns gerade in Marsch setzen wollten, tauchte Menachem hinter einem Pinus halepensis (gemeinhin Aleppo-Kiefer genannt, man ist ja lernfähig!) auf. »Außer mir hat Sie niemand vermißt«, sagte er lachend, »aber von jetzt an werden wir vor jeder Kirche erst mal abzählen lassen. Wie beim Militär. Könnt ihr das überhaupt?«
Fragend sah mich Irene an. »Na ja, so ein bißchen BDM haben wir noch mitgekriegt, doch bevor es zu militant wurde, war der Spuk zum Glück vorbei.« Einen Moment zögerte sie, dann gab sie sich einen Ruck. »Sie brauchen nicht zu antworten, wenn Sie nicht wollen, dafür hätte ich volles Verständnis, aber fragen werde ich Sie trotzdem: Wie haben Sie das Dritte Reich überlebt?«
Während wir bergab wanderten, erzählte Menachem. Er stammte aus Hamburg, sei zusammen mit seinem Bruder in gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, habe, wie der größte Teil seiner Verwandten und Freunde, die Reichskristallnacht als einmaligen Auswuchs fanatischer Nationalsozialisten angesehen und sei erst vom Gegenteil überzeugt worden, als man seinem Vater, einem Arzt, die Praxis geschlossen habe. Die Ausreise ins damalige Palästina sei ihm noch ermöglicht worden. Ihn, Menachem, habe er mitgenommen, der ältere Bruder sollte zusammen mit Mutter und Onkel folgen, sobald sie die nötigen Papiere haben würden, doch dazu sei es nicht mehr gekommen. Jahre später habe er erfahren, daß alle Angehörigen ins KZ verschleppt und dort umgebracht worden waren. »Wir haben hier neu angefangen, buchstäblich mit nichts, Steine aus der Erde geklaubt, den Boden mit der Hacke bearbeitet, Gemüse angebaut, um etwas zu essen zu haben. Mein Vater hat auch nicht lange durchgehalten. Die ungewohnte körperliche Arbeit und die Ungewißheit darüber, ob nicht vielleicht doch meine Mutter oder mein Bruder den Holocaust überlebt haben könnten, haben ihn krank gemacht. Die Gründung des Staates Israel hat er nicht mehr mitbekommen.«
Lange Zeit schwiegen wir. Zum erstenmal waren wir jemandem begegnet, der zu den unmittelbar Betroffenen dieser unseligen Zeit gehörte, dessen Familie umgebracht worden war und der trotzdem keine Haß- oder gar Rachegefühle zu haben schien. Das begriff ich nicht.
»Wie können Sie nach allem, was man Ihnen und Ihren Angehörigen angetan hat, uns Deutschen so unbefangen und – verzeihen Sie den Ausdruck, mir fällt kein anderer ein – so herzlich gegenübertreten? Normalerweise müßten Sie uns doch alle verabscheuen.«
»Das habe ich auch«, sagte er nachdenklich, »lange sogar. Bei jedem Deutschen, der älter war als ich, habe ich mich im stillen gefragt, ob auch er ein KZ bewacht oder Juden zu den Sammelstellen getrieben hat, doch diese Generation stirbt allmählich aus, und die nachfolgende kann man schon nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher