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Muster - Steffen-Buch

Muster - Steffen-Buch

Titel: Muster - Steffen-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raidy
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hielt ich den Kopf unter Wasser, wie sie es mir befohlen hatte.
    Stunden vergingen und meine Haut wurde ganz schrumpelig. Ich wagte es nicht, meinen Körper irgendwo zu berühren, um mich zu wärmen. Ich hob den Kopf jedoch so weit aus dem Wasser, dass ich besser hören konnte. Wann immer ich jemanden den Flur hinunter-kommen hörte, tauchte ich leise wieder mit dem Kopf unter.
    Die Schritte, die ich hörte, stammten gewöhnlich von einem meiner Brüder, die in ihr Kinderzimmer gingen. Manchmal kam einer von ihnen ins Badezimmer, um auf die Toilette zu gehen. Sie starrten mich nur an, schüttelten den Kopf und wandten sich ab. Ich versuchte, mir vorzustellen, ich sei anderswo, aber ich konnte mich nicht genügend entspannen, um Phantasiereisen zu machen.
    Ehe die Familie sich zum Abendessen hinsetzte, kam Mutter ins Badezimmer und schrie mich an, ich solle aus der Wanne kommen und mich anziehen. Ich reagierte sofort und griff nach einem Handtuch, um mich abzutrocknen. »O nein!«, brüllte Mutter. »Zieh sofort deine Kleider an!« Ohne zu zögern, gehorchte ich. Meine Kleider waren triefnass, als ich hinunterrannte und mich laut Mutters Befehl in den Hinterhof setzte. Die Sonne ging langsam unter, aber der halbe Hinterhof wurde noch von ihr beschienen. Ich wollte mich dort niederlassen, doch Mutter schickte mich in den Schatten. In der Ecke des Hinterhofs saß ich in meiner Kriegsgefangenenstellung da und zitterte wie Espenlaub. Ich wollte nur ein paar Sekunden Wärme, aber mit jeder Minute, die verstrich, wurden meine Chancen zu trocknen geringer. Aus dem Fenster im ersten Stock konnte ich das Klappern des Geschirrs hören, als »die Familie« sich gegenseitig die Speisen reichte. Hin und wieder erklang schallendes Gelächter. Da Vater zu Hause war, wusste ich: Was immer Mutter gekocht hatte, es war gut. Ich wollte den Kopf heben, um zu ihnen aufzublicken und ihnen beim Essen zuzusehen, aber ich traute mich nicht. Ich lebte in einer anderen Welt. Mir war es nicht einmal vergönnt, einen Blick auf das gute Leben zu erhaschen.
    Die Badewannen- und die Hinterhofbehandlung wurden bald zur Routine. Zuzeiten brachten meine Brüder ihre Freunde mit ins Bade-67

    zimmer, damit sie ihren nackten Bruder beglotzen konnten. Ihre Freunde verspotteten mich oft. »Was hat er denn jetzt schon wieder ausgefres-sen?«, fragten sie. Die meiste Zeit schüttelten meine Brüder nur den Kopf und sagten: »Keine Ahnung.«
    Als die Schule im Herbst wieder anfing, hoffte ich, meinem erbärmlichen Leben zumindest vorübergehend entkommen zu können. Die vierte Klasse bekam für die ersten zwei Wochen eine Vertretung für unsere Klassenlehrerin, die krank war. Die Lehrerin war jünger als die meisten anderen Lehrer in der Schule und wirkte lässiger. Am Ende der ersten Woche gab sie den Schülern, deren Betragen gut gewesen war, ein Eis aus. In der ersten Woche bekam ich keins, aber ich gab mir in der zweiten Woche mehr Mühe und bekam meine Belohnung. Die neue Lehrerin spielte uns 45er-Schallplatten mit Pop-Hits vor und sang dazu.
    Wir mochten sie sehr. Als es Freitagnachmittag war, wollte ich nicht gehen. Nachdem alle anderen Schüler das Klassenzimmer verlassen hatten, beugte sie sich zu mir hinunter und erklärte, dass ich nach Hause gehen müsse. Sie wusste, dass ich ein Problemkind war. Ich sagte, dass ich bei ihr bleiben wolle. Sie schloss mich in die Arme und hielt mich einen Augenblick lang fest. Dann stand sie auf und spielte das Lied, das ich am liebsten mochte. Danach ging ich. Da ich spät dran war, rannte ich, so schnell ich konnte, nach Hause und erledigte meine Aufgaben wie der Blitz. Als ich fertig war, schickte Mutter mich in den Hinterhof, wo ich auf dem kalten Betonboden sitzen musste.
    An diesem Freitag blickte ich in den dichten Nebel, der die Sonne verhüllte, und meine Seele weinte. Die Lehrerin war so nett zu mir gewesen. Sie behandelte mich wie einen richtigen Menschen und nicht wie ein Stück Dreck. Während ich dasaß und mir selber Leid tat, fragte ich mich, wer sie war und was sie tat. Ich verstand es zu diesem Zeitpunkt nicht, aber ich war in sie verliebt.
    Ich wusste, dass ich weder an diesem Abend noch am nächsten Tag etwas zu essen bekommen würde. Da Vater nicht zu Hause war, würde es ein schlechtes Wochenende für mich werden. Während ich in der kühlen Abendluft im Hinterhof saß, konnte ich hören, wie Mutter meinen Brüdern das Abendessen servierte. Es war mir egal. Ich schloss die Augen und stellte

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