Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Bedingungen. Du kennst dich nicht so aus wie zu Hause, kennst niemanden, die hygienischen Bedingungen sind eventuell schlechter. Da wird die Traumreise schnell zum Albtraum.«
Irgendwie konnte ich verstehen, was sie damit sagen wollte. Aber schon damals regte sich in mir Widerspruch. Ich konnte ihn nur nicht begründen.
Nach dem Tag im Art District 798 spüre ich: Es gibt keine organisierte Freiheit. Entweder bin ich frei. Oder organisiert. Ein Vogel in einem Käfig wird ja nicht dadurch frei, dass er die jeweilige Stange, auf der er sitzt, frei wählen darf. Oder jede Stunde ein Lied seiner Wahl trällern kann.
Das Leben mit Levi auf Reisen ist für mich leichter als der Alltag mit Levi in München, weil es auf Reisen keinen Alltag gibt, den ich meine organisieren zu müssen. Oder von dem andere behaupten, dass die hohe Kunst des Mutterseins darin bestünde, ebendiesen Alltag zu organisieren. Die Herausforderung war in München schon, so etwas wie Alltag in meinem Leben zu finden, den ich hätte organisieren können.
Meine freiheitliche Seele braucht ein freiheitliches Lebensmodell, sonst stirbt sie. Und ein freiheitliches Lebensmodell hat keinen festen Rahmen. Kann keinen festen Rahmen haben. Es ist flexibel. Es passt sich an. An mich. Und uns. Nicht umgekehrt.
Meine freiheitliche Seele braucht inspirierende Räume, Orte und Menschen. Menschen, die ihre Träume leben. Räume, die eine Seele besitzen dadurch, dass sie mit Herzblut von Menschen erschaffen wurden, die mit ihren Träumen darin gelebt haben. Ich kann nicht einseitig lieben. Weder Orte, noch Menschen. Noch mich selbst. Und ich kann mich nur lieben, wenn ich so lebe, wie ich bin.
Und das gelingt mir unterwegs auf dieser Reise mit Levi. Ich lebe hier mein Leben. Und ich sehe und spüre jeden Tag: Dieses Leben schadet Levi nicht. Im Gegenteil. Es ist spannend, mich und Levi bei dieser Reise zu beobachten. Auszuprobieren, was uns taugt und was nicht. Spielerisch mit uns und unserem Leben umzugehen fühlt sich gut an.
»Unser Leben«, sage ich in die Dunkelheit und schlafe mit einem Grinsen im Gesicht ein.
Great Wall oder: Manchmal beneide ich mich schon selbst
So habe ich mir das nicht vorgestellt!
Eigentlich hatte ich gar keine Vorstellungen. Kein abrufbares Foto im Kopf. Nichts. Nur die nebulöse Idee einer grauen massiven Mauer.
Was ich da gerade aus den Augenwinkeln erspähen konnte, sah anders aus. Kühn. Verrückt. Wie eines der sieben Weltwunder eben.
Leider sehe ich jetzt nur noch Berge ohne Mauer. Seit anderthalb Stunden blicke ich aus dem Fenster des Autos, in dem Levi neben mir schläft und Markus auf dem Beifahrersitz mit dem Fahrer parliert. Auf Chinesisch-Englisch.
Die Mauer saß auf den Bergen. Ganz oben. Sie zeichnete die gesamte Topografie der Landschaft nach. Wie ein Höhenweg oder Klettersteig der, egal wie steil oder unwegsam, den Bergkamm nie verlässt. Keinen Millimeter.
Deshalb hatte ich zuerst auch nicht realisiert, dass ich sie sehe. Mich hatte nur gewundert, dass die eine der Bergketten so eckig war, so gar nicht organisch rund wie all die anderen Bergkämme. Die Mauer fiel steil ab, um kurz darauf wieder steil aufzusteigen. Alle paar Hundert Meter ein viereckiger massiver Turm.
Aufgeregt rutsche ich auf der Rückbank hin und her. Eigentlich sollte die Fahrt drei Stunden dauern. Aber von meinen bisherigen Tibet- und Chinareisen weiß ich, dass Chinesen die Angewohnheit pflegen, die Autobahn bis direkt vor die mystische Sehenswürdigkeit zu bauen. Und so wundert es mich weniger als den Fahrer, dass wir auf einer nagelneuen dreispurigen Autobahn, die selbst das Navigationssystem noch nicht kennt, dahinbrausen. Der Pfeil des Navigationssystems lässt das virtuelle Auto auf dem Bildschirm ins elektronische Nirwana sausen, hat dabei aber das Ziel immer fest im Visier. Nach einer Stunde und 35 Minuten fahren wir durch einen Tunnel unter der Mauer hindurch, der uns wenige Minuten später vor dem verwaisten Visitors Center Jinshanlings wieder ausspuckt. »Ausländer trifft man hier selten, dabei handelt es sich um das mit Abstand spektakulärste Stück der Großen Mauer, das derzeit zu besteigen ist«, weiß der Reiseführer.
Der Fahrer ist nervös. Sein Auftrag lautet, uns unversehrt zurück nach Peking zu bringen. Und ich habe ihm gerade eröffnet, dass er uns in Simatai wieder aufklauben soll. Wir wollen auf der Mauer von Jinshanling nach Simatai laufen. Steil bergauf und bergab. Ohne Guide. Einfach los. Die Mauer ist
Weitere Kostenlose Bücher