Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
zwei Hotpots, Töpfe aus Metall, unter denen ein kleines Feuer lodert. Der Inhalt ist heiß, fettig und extrem lecker. Sicherheitshalber bekommt Levi ein Babygläschen. Wir halten uns die Bäuche und brauchen Cola und Kaffee, um unsere Mägen einigermaßen zu beruhigen. Dann fühlen wir uns geerdet genug, um mit dem Strom aus Chinesen aus allen Landesteilen die Kreativität Pekings zu entdecken.
Wie in Venedig bestens erprobt, laufen wir ohne Plan durch das Viertel. In jedem Hinterhof finden wir eine Ausstellung, hinter jeder Ecke eine kleine Galerie. Wir geraten mehr und mehr in einen Rausch aus Architektur und Kunst: Da ist zum Beispiel diese Halle, die überquillt vor bunten Blumen. Die Wände, der Boden, alles ist bunt. Selbst von der Decke hängen die bunten Plastikblüten. Bei genauerem Hinsehen erkennen wir, dass es sich um Soldatenpuppen mit Gewehren handelt, die da blumenüberzogen von der Decke baumeln oder mitten im Raum stehen. Levi zupft an den Blüten und ist damit in bester Gesellschaft: Unsere chinesischen Mitbesucher stopfen den Puppen Zigaretten in den Mund, in die Ohren und auch in die Nasen, stellen sich mit Peacezeichen daneben und machen Fotos. Die Aufpasser scheint das nicht zu stören. Niemand verscheucht die Menschen, die mit der Kunst spielen.
Als Nächstes finden wir eine Sammlung schwarzer Skulpturen: allesamt untersetzte nackte Männer in unterschiedlichen Posen – auf einem Stier, hinter einem Pferd. Alles erschlagend sexualisierte emotionale Selbstbildnisse des Künstlers um die fünfzig. Der bewirtet die anwesende Presse und weitere Gäste mit Getränken und Kanapees. Auch mir drückt er ein Glas in die Hand und zwickt Levi in die Wange.
Weiter geht’s zum Raum voller digitaler Spiegel, die abwechselnd laut scheppernd zerbrechen und sich wieder zusammensetzen. Die habe ich vor ein paar Monaten auf dem Biennale-Gelände in Venedig schon bewundern können.
Immer wieder kommen wir zurück zum Hauptplatz. Zum ursprünglichen Fabrikgelände 798, dahin, wo alles begann. Ein riesiger Platz, umrahmt von backsteinigen Fabrikgebäuden und einem alten Lastenkran aus Stahl. Es sieht aus wie in New York oder einem sich zum kreativen Ort wandelnden Hafenviertel des alten Europa. Wie kann es sein, dass es so etwas in Peking gibt? Andersherum ist die Frage auch nicht unspannend: Warum gibt es so etwas nicht in Europa? Oder New York. In diesem Ausmaß? In dieser Perfektion?
Dass der ganze Ort von fröhlichen Chinesen bevölkert ist und nicht von schwarz gekleideten ernst dreinblickenden Europäern, gibt dem Ganzen eine surreale Note. Eine Frage hämmert durch meine Hirn: Ist das wirklich echt?
Es dämmert. Ich brauche eine Pause. Und ein Glas Wein.
Fällt es nur uns schwer, sich dem kreativen Rausch hinzugeben, der uns umhüllen würde, wäre dieser Ort in Berlin, New York oder Barcelona? Also: Ist nur mir die chinesische Kreativität nicht zugänglich? Denn: Innerlich kommt nicht wirklich etwas in Bewegung bei mir. Ich fühle mich wie ein Kind, das sich die Nase am Schaufenster des geschlossenen Süßigkeitenladens platt drückt. Oder wie ein Gefangener hinter Gittern, an dem die schönsten Landschaften per Videoscreen vorbeirauschen. Oder dessen Gefangenentransport durchs Paradies rattert. Auf jeden Fall fühle ich mich so ambivalent wie selten. Irgendwie gut, aber irgendwie auch extrem unbefriedigt.
Und was das Schlimmste ist: Ich suche die Ursache dafür in mir. Weil der Ort so perfekt ist. Warum zum Teufel berührt er mich nicht? Zumindest nicht so, wie ich es mir wünsche. Da stimmt doch was nicht. Mit mir?
Erschöpft, verwirrt und teilinspiriert sitzen wir im At -Café. Um uns herum schwirren chinesische, deutsche, englische und brasilianische Wortfetzen. Levi schläft. Und obwohl ich noch da bin, möchte ich wiederkommen. Zu diesem für mich bisher faszinierendsten, widersprüchlichsten Ort Pekings.
Seelenraum: Spiel mit dem Leben
Verwirrt von der Widersprüchlichkeit des vergangenen Tages liege ich schlaflos im Bett. Im Art District 798 habe ich mich einen kurzen Augenblick wieder so gefühlt wie vor unserer Abreise nach Sankt Petersburg: Eine Freundin hatte mir prophezeit, dass ich meine Reiselust jetzt mit Levi sicher nur noch eingeschränkt ausleben könnte. Auf meine Frage nach dem Warum erklärte die Mutter von zwei Kindern: »Den Alltag mit Kindern zu Hause zu organisieren ist schon anstrengend genug. Im Urlaub mit Kindern geht der Alltag weiter. Nur unter erschwerten
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