Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
junger Chinesen. Sie umjubeln Levi und seine zwei schweißnassen Lastenträger, als hätten wir gerade den Mount Everest bezwungen. So fühle ich mich auch. Mindestens. Aber woher wissen die das?
»Wie ist es hinter der Absperrung?«, fragt mich einer der Gruppe.
»Steil, alte Steine. Wunderschön!«, lache ich zurück.
»Warum habt ihr das gemacht, mit Baby?«, fragt eine andere Chinesin.
»Wir laufen gerne. Beim Laufen ist alles viel intensiver.«
»Aha?«
»Ist das nicht gefährlich mit Baby?«, fragt ein Dritter nach einer Pause und schiebt: »Wie gefällt euch Peking?« hinterher.
»Hat sich Peking seit der Olympiade verändert?«, frage ich zurück, und so sitzen wir eine Weile im Kreis. Die Chinesen überschlagen sich vor Begeisterung über unser blondes Baby und machen Fotos. Wir machen unsererseits Fotos davon, wie die Chinesen sich in unterschiedlichen Posen fotografieren. Meist hüpfend mit hochgerissenen Armen und »Yeah!« schreiend. Wir lachen zusammen und genießen das unwirkliche Gemeinschaftsgefühl, das dabei entsteht. Nicht greifbar, aber unerwartet intim.
Erschöpft und aufgeputscht zugleich feiern wir abends in Peking im japanischen Restaurant Bei bei Sushi und Weißwein den Tag. Levi hat schon aufgegeben und schläft im Kinderwagen neben unserem Tisch. Mein Kopf ist leer und voll zugleich. Auf eine angenehm anregende Art.
»Manchmal beneide ich mich schon selbst um mein Leben!«, sagt Markus und ergänzt: »Mit dir.«
Was suchen wir eigentlich noch?
Es ist zehn Uhr. Der Flieger geht um 13.20 Uhr. Levi schläft. Markus’ Tasche ist gepackt. Wir haben seit Tagen das erste Mal wieder in unserem Zimmer gefrühstückt. Die Welt und mit ihr die Zeit soll bloß noch draußen bleiben.
»Es wäre schön, zu dritt weiterzureisen!«, sage ich. Markus schaut mich traurig und lachend zugleich an. Wir wissen beide, dass das nicht geht. Seine Pläne lassen das nicht zu. Und meine auch nicht.
Aber diejenige, die das Projekt steuert, kann die Regeln doch ändern? Mann, warum müssen gute Ideen so wehtun?
Mit feuchten Augen stehe ich in der geöffneten Hotelzimmertür, als der Lift klingelt, Markus darin verschwindet und der Mann aus dem Nebenzimmer mich mitleidig anschaut. Als die Tür klickend ins Schloss fällt, wacht Levi auf. Ich hebe ihn aus dem Bett und laufe auf den Balkon, um Markus gerade noch im Taxi verschwinden zu sehen. Auch Levi macht eine lange Nase, als das Taxi hinter der baumumrankten Straße verschwindet. Es ist 11.15 Uhr, und die Wahrscheinlichkeit, dass Markus in zwei Stunden wieder an unsere Tür klopft, ist gar nicht so gering.
Planlos sitzen wir zwei Übriggebliebenen auf dem Bett.
»Ob wir nur noch zu dritt verreisen sollten?«, frage ich Levi. Wenn es mir schon so schwerfällt, was geht dann wohl in meinem Sohn vor? Er weiß nicht, warum Markus weg ist und wann er wiederkommt. Ob er ihn jemals wieder sehen wird. Er weiß nur, dass er ihn in der Gegenwart vermisst. So wie ich. Komisch ist, dass der Abschied in Sankt Petersburg viel leichter fiel. Liegt das vielleicht daran, dass ich unserem Ziel näher gekommen bin? Dass Markus nun dazugehört, um zu testen, ob es trägt? Was auch immer es ist?
»Was suchen wir hier eigentlich noch?«, frage ich mich leise. Und: Wenn wir überhaupt noch was suchen, können wir es in Peking finden?
Ich will nach Hause!
Irkutsk fällt mir ein: Im Falle akuter Traurigkeit helfen zwei Dinge: Musik und Tanzen. Also stelle ich die Lautsprecher meines Laptops auf volle Lautstärke und spiele unsere Lieblingsstücke. Funktioniert nur zum Teil.
Als gegen 13 Uhr der Anruf kommt, dass Markus den Flieger erwischt, greife ich zu Plan B : Shoppen! Ich setze Levi auf meine Hüfte und betrete den Replica Market. Wie verletzte Tiger ziehen wir unruhige Kreise in dem vierstöckigen übervollen Gebäude, bis eine junge Chinesin uns überzeugt, an ihrem Taschenstand stehen zu bleiben. Sie hat gute Argumente: Sie spricht perfekt Deutsch. Und sie versteht es, Levi um den Finger zu wickeln.
»Oh, du bist ja ein süßer kleiner Mann«, säuselt sie, und Levis Augen leuchten. Mensch, Levi, die will doch nur dein Geld! Beziehungsweise meins. Aber Levi ist Feuer und Flamme.
»Wie alt bist du denn?«, fragt sie akzentfrei. Sie hat Deutsch an einer Sprachenschule in Peking gelernt und interessiert sich für fremde Länder, beantwortet sie meine bewundernden Fragen. Levi zupft unterdessen an zwei der drei Taschen herum, die sie ihm vor die Nase hält. Wenn es
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