Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
zwar kurz vor Simatai wegen Renovierungsarbeiten gesperrt. Aber ein Engländer, der in Peking lebt und den Levi in einem Restaurant kennengelernt hatte, hatte uns versichert, dass die Stelle passierbar und es sehr offensichtlich sei, wo man runter nach Simatai käme.
Vier Stunden brauchen konditionsstarke Naturen, schätzt der Reiseführer. »Also brauchen wir mindestens sechs, mit Pausen eher sieben«, lache ich dem Fahrer unsere geschätzte Ankunftszeit entgegen. Levi strampelt in der Babytrage dazu mit seinen Füßen gegen meinen Bauch.
Wir nehmen die klapprige grüne Gondel, die uns in siebzehn Minuten die 150 Höhenmeter zum Startpunkt auf die Mauer ruckelt. Der Guide, der uns unbedingt begleiten will, ist gegen Zahlung von 100 Yuan schnell abgewimmelt. Die wenigen Menschen, mit denen wir Jinshanling heute teilen, sind nach dem ersten steilen Aufstieg von 200 Stufen auch verschwunden. So haben wir bei unserer ersten Pause nach neunzig Minuten diesen Wahnsinn aus grauem Stein für uns allein.
Wir sitzen auf einem abschüssigen Stück unrenovierter Mauer. Vor uns verliert sich eine dominante Steinschlange in der Unendlichkeit. Das helle Grau der Steine, das blasse Dunkelgrün der darunter rauschenden Baumkronen und der sandfarbene Untergrund vermischen sich mit dem Graublau der Luft zu einer Zeitmaschine, die uns in das China des 12. bis 15. Jahrhunderts zurückversetzt.
Was lässt einen Menschen ein derart kühnes Bauwerk in Auftrag geben? Wie viele Menschen waren wohl an dem Bau beteiligt? Und wie viele Soldaten haben auf diesen kopfsteinpflastrigen Böden patrouilliert? Und haben die Vorgängerinnen der fliegenden Händlerinnen, die heute in fast jedem Turm sitzen und Kaffee, Cola und Wasser anbieten, damals schon die Soldaten versorgt?
Je weiter wir laufen, desto verwitterter und ursprünglicher wirkt die Mauer. Waren in Jinshanling die Stufen noch gerade gemauert und die seitlichen Mauerbegrenzungen absturzsicher hoch, entwickelt sich unsere Wanderung mehr und mehr zur aufregenden Kletterpartie. Die seitlichen Begrenzungen fehlen meist komplett, was insbesondere bei den steil ansteigenden und abfallenden Passagen neben der körperlichen Anstrengung emotional extrem herausfordernd ist. Denn: Dahinter wartet ein zehn bis 15 Meter tiefer gähnender Abgrund. Der Boden ist buckelig wie eine Wiese in Maulwurfcountry.
Während in Jinshanling vermutlich kein historischer Stein mehr in der Mauer verbaut ist, spüren wir mit jedem gewanderten Meter Richtung Simatai die Geschichte aus den Poren der mehr und mehr echten Steine dringen.
Levi knabbert Melone und genießt seinen Glückstag. In den zahlreichen Pausen, die wir einlegen, kann er sein Lieblingshobby perfektionieren: Treppenkrabbeln. Er krabbelt die Mauer wieder hoch, die wir gerade heruntergestiegen sind, und macht sich an einer Schießscharte zu schaffen. Als er müde wird, stopfe ich ihn in die Babytrage, um mit meinem ruhig vor sich hin schnarchenden Baby die wenigen weiteren Millionen Treppenstufen hinauf- und hinabzusteigen.
Immer wieder müssen wir uns hinsetzen. Vor Erschöpfung. Und vor Glück. Die bröckeligen alten Steine verströmen eine enorme Kraft. Und einen klaren Machtanspruch. Selbst heute noch. Die schiere Unendlichkeit suggeriert ein übermenschliches Reich dahinter. Unmissverständlich.
Wie gigantisch muss das Bauwerk damals erst gewirkt haben?
Ein chinesischer Mann wird erst durch den Besuch der Mauer zum richtigen Mann, hat Mao proklamiert. Heute noch erfüllen Millionen Chinesen täglich ihre maskuline Pflicht. Meistens in der Gegend um Badaling. Zum Glück nicht hier. Ob Mao ein Hase war?
Uns schüchtert die Mauer nicht ein. Wir kommen ja nicht in kriegerischer Absicht. Die wahnwitzige Idee, die jede eckige Bergkuppe uns entgegenstrahlt, gepaart mit unserer körperlichen Anstrengung und der Euphorie, dieses Wunder für uns allein zu haben, ballen sich wie Kumuluswolken zu einer Intensität des Momentes zusammen, die fast nicht zu ertragen ist. Also bleiben wir immer öfter stehen, strahlen, tanzen, singen und schreien. Hier würde ich gerne bleiben. Zelten. Mehrere Tage wandern.
Zwei Schilder mit der Aufschrift Campsite füttern dieses Verlangen. Wie weit wir absteigen müssten, sehen wir nicht.
Ohne Levi würden wir das machen. Mit Levi traue ich mich das nicht. So ganz allein. Denn morgen fliegt Markus nach Hause.
Gerade als wir die Absperrung kurz vor Simatai überklettert haben, begegnen wir einer zehnköpfigen Gruppe
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