Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
hinterste Ecke unserer Bettbank verkrümelt hat, mit einem spitzbübischen Lächeln den Weltenschwimmball zu und entschwindet Richtung Nachbarabteil.
Und Levi hinterher. Krabbelnd. Die Weltkugel mit seinen Händen vor sich her dribbelnd. Begleitet von lautem Glucksen. Einige kurze Momente sitze ich allein in unserem Abteil. Höre Levis hohes Quieken, gedämpft durch den Staubsaugerlärm, das Rattern und die Abteilwand. Ich schließe meine Augen und versuche, all meine positive Energie zu sammeln, die ich bestimmt gleich brauchen werde, um gegen die von Levis Ballspiel genervten Mitreisenden anzulächeln.
Als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich Levis Füße und einen türkisen Rockzipfel am rechten Rand meines Blickfelds verschwinden. Das dreijährige Mädchen mit den pinken Plastiksandalen entpuppt sich als Fußballkönigin. Auf dem frisch gesaugten Gangboden dribbelt sie laut lachend mit Levis Weltkugel Richtung Samowar. Am Ende des Teppichs angekommen, vollzieht sie eine geschickte 180-Grad-Drehung und schießt dem ihr immer noch in voller Geschwindigkeit in die ursprüngliche Richtung hinterherkrabbelnden Levi den Ball in sein bis dahin glückliches Gesicht. Sofort läuft die ältere Dame unseres Nachbarabteils zum Ort des Geschehens und schimpft auf das Mädchen ein. Diese senkt den Kopf, verschränkt die Arme vor der Brust, zieht eine Schnute und blitzt Levi aus Augenschlitzen an. Die alte Dame kramt ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und putzt Levis Hände. Ich kämpfe gegen mein aufsteigendes schlechtes Gewissen an, dass ich Levi auf diesem sicher nicht keimfreien Boden krabbeln lasse, nehme den Ball, frage die Dame: »Okay?« und werfe ihn dem Mädchen zu. Diese schaltet sofort wieder um auf Lächeln und dribbelt mit Levi an ihren Fersen den 25 Meter langen Gang Richtung Toiletten.
Die Dame entpuppt sich als Ritas Oma und ist gemeinsam mit ihrer dreijährigen Enkelin und deren Vater auf dem Weg nach Irkutsk. Nach Hause. Als Levi und Rita zum vierten Mal bei uns vorbeistürmen, mustert die Oma die roten Punkte in Levis Gesicht – Souvenirs in Form von Mückenstichen an unsere Nächte im Hotel Europa in Sankt Petersburg. In leisem, ernstem Ton spricht sie mit Rita, die daraufhin wieder in ihre regungslose Schmollhaltung verfällt: Gesicht geneigt, angelehnt an die Zugwand, blitzende Augenschlitze und Schnute. Ich zeige auf Levis Stiche und sage: »Okay.« Die Oma schaut mich ernst an. Ich hebe den Zeigefinger meiner rechten Hand, lasse ihn durch die Luft fliegen und versuche möglichst echte Mückengeräusche zustande zu bringen. Omas Miene hellt sich nicht auf. Auch nicht, als mein Zeigefinger auf Levis Gesicht landet und ihn sticht. Rita, die meinen Finger genau beobachtet hat, sagt etwas zur Oma, woraufhin sich deren Blick ein wenig aufhellt. »Da« , sage ich, weil ich überzeugt davon bin, dass Rita mich richtig verstanden hat. Nur um sicherzugehen, tippe ich »Nicht Masern, Mückenstiche« in die Übersetzungs-App meines iPhones, und die Dame strahlt.
Mittlerweile recken sich sieben Köpfe aus vier Abteilen und kommentieren fröhlich lachend das laute Treiben vor ihren Türen. Ich setze mich neben die blonde Frau auf einen Hocker im Zuggang und klatsche mit den anderen, wenn Levi mal den Ball von Rita stibitzt, oder rufe begeistert, wenn Rita bei der Wende ein geschickter Lupfer über Levi gelingt. Wie heißt er? Wie alt ist er?, verstehe ich die auf Russisch gestellten Fragen hoffentlich richtig. Auf meine zehn Monate symbolisierende Geste ernte ich erstaunte Gesichter. Wo wir herkommen, fragt Ritas Vater, der sich zu mir und der blonden Frau stellt und dessen Gesicht ich von gestern Nacht schon kenne. Er trägt Surfershorts, ein weißes T-Shirt und Badelatschen, wie die meisten der Mitreisenden. Ich greife mir den Weltenfußball und zeige auf München. »Germani« , sagt Ritas Vater mit großen Augen. Dann zeigt er auf Irkutsk, misst mit Zeigefinger und Daumen seiner rechten Hand den Abstand zwischen München und Irkutsk – gute 20 Zentimeter – und lacht. Seine Frau, Ritas Mutter, war weinend am Bahnhof von Sankt Petersburg zurückgeblieben. Wegen ihrer Arbeit. Auf einem Schiff, wenn ich die Umrisse, die Sergei in die Luft malt, richtig deute. Dann nimmt er einen imaginären Löffel in die Hand und beginnt zu essen. Aha, denke ich. Auf einem Boot, auf dem man essen kann – also Kellnerin auf einem Kreuzfahrtschiff oder Köchin auf einer Fähre durch die Ostsee, oder Kapitänin auf einem
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