Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Zentimeter klein, geschätzte 45 Kilo leicht, schwarze Leggings, ein mit mir unbekannten Comicfiguren verziertes T-Shirt, grüne Plastikcrocs, halblange weißblonde Haare mit sehr dunklem Ansatz über bleichem Gesicht mit schwarzen Augenringen. Ein Traumpaar.
Plötzlich ist auch die ältere Kellnerin wieder da, zeigt auf Levi und fragt: »Baikal?« Das hintere »a« verschmilzt dabei mit dem »l« zu einem osteuropäischen Singsang. Klingt ein bisschen nach Rheinländern, die Karl sagen: de Kall. »Da« , sage ich, eines der wenigen russischen Worte, das ich kenne, und strahle, dankbar für den Rettungsreifen im Wodkameer, das sich immer bedrohlicher vor mir aufschaukelt. Levi studiert die letzte der Servietten aus dem Spender. Die anderen sieben liegen als zerrissenes Häufchen in der Mitte unseres Tisches. Die Kellnerin reißt die Augen auf, ruft »Baikal!« , zeigt auf Levi, lässt die Mundwinkel fallen, schüttelt dazu ihren braun belockten Kopf, reckt die Arme gen Waggondecke und verschwindet vor sich hin schimpfend in einem Kabuff, in dem ich die Restaurantküche vermute.
Sechs schweigende Augenpaare sind auf uns gerichtet. Ich lache dagegen an, werfe ein wenig Serviettenkonfetti auf Levi und rufe leise: »Baikaalllll!« Begeistert lacht Levi dazu.
Nun steht auch der Goldkettenträger auf, sackt zurück auf die Bank, versucht es erneut und baut sich neben unserem Tisch auf, legt mir seine rechte Hand auf die linke Schulter, lacht ein Lachen, das den Zug fast aus den Gleisen springen lässt, und hält mir ein volles Glas, welches ich nun eindeutig als Wodka identifiziere, unter die Nase und ruft: »Baikal!« Ich erhebe mein Orangensaftglas, erwidere seinen Ruf, versuche dabei, den A-l-Singsang möglichst russisch auszusprechen, und stoße mit den dreien an. Levi hält mit beiden Händen seine Milchflasche umschlungen und schiebt sie in die Mitte des Tisches, begleitet von einem lauten Dadadaaaat. Unsere neuen russischen Freunde schenken sich noch eine Runde ein. Drei gut gefüllte Wodkagläser und eine halb leere Milchflasche treffen sich über acht zerrissenen Papierservietten. Zwei fleischige Pranken tätscheln liebevoll Levis Schultern und winken uns nach, als wir ein kleines bisschen wehmütig Richtung Waggon Nummer 7 entkommen.
Ein Fußball für die Völkerverständigung
Nur ein vor sich hin dösender, mit türkisfarbenem Teppich und mittelbraunem Holzfurnier dekorierter Erste-Klasse-Waggon trennt den als Zugrestaurant getarnten Wodkasaloon von unserer quadratisch-praktischen Wohnbox. Acht der neun Abteiltüren stehen offen, nichts deutet auf Reisende hin. Da ich mit Levi gerne erster Klasse gebucht hätte, die laut Aussage aller dazu befragter möglicher Erfüllungsgehilfen jedoch ausgebucht war, bleibe ich irritiert vor der letzten offenen Tür stehen. Die Bänke sind statt mit rotbraunem Plastik mit türkisfarbenem Stoff bezogen, und anstelle der oberen Pritschen prangt ein Fernseher an der Wand. Ich verschwinde mit Levi in die Erste-Klasse-Toilette, kann keinen Unterschied zu der in der zweiten Klasse feststellen und öffne gedankenversunken die Verbindungstür zu Waggon 7. Fröhliches Geschnatter, Kinderlachen und Musik schlagen uns entgegen. Es wirkt heller und dichter als in der ersten Klasse. Nicht so plüschig. Irgendwie reisemäßiger.
Eine große blonde Frau in schwarzer Jogginghose sitzt auf einem der ausklappbaren Hocker im Gang und schaut leicht entrückt aus dem Fenster. Eine vierköpfige Familie mit zwei Söhnen im Teenageralter spielt in ihrem offenen Abteil Karten – die Männer in blauen Trainingsanzügen, die Frau in einem roten Modell. Ein Mobiltelefon baumelt an einer der zwei Steckdosen im Gang, und die blonde Schaffnerin arbeitet sich mit einer Mülltüte bewaffnet und einem Lächeln im Gesicht von Abteil zu Abteil. Sie hat ihre Begrüßungsuniform – schwarzer Rock mit weißer Bluse – abgelegt und trägt jetzt ein hellblau-graues Arbeitskleid. Ein kleines Mädchen in pinken Plastiksandalen und türkisfarbenem Kleid stolpert über meine Füße, und ich beschließe, die Umbuchung in die erste Klasse gar nicht erst in Angriff zu nehmen.
In unserem Abteil lasse ich die Tür offen und blase vor Levis erstaunten Augen eine formlose blau-bunte Plastikmasse zu einer Weltkugel von 30 Zentimetern Durchmesser auf. Olga hat die Mülltüte irgendwo verstaut und entert mit einem Staubsauger unser Abteil, wirft Levi, der sich aus Respekt vor dem dröhnenden blauen Monster in die
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