Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
kleines Nest und meinen schlafenden Sohn.
Ich verbrenne mir den Mund am Tee und stelle fest, dass ich keine Vorstellungen davon habe, was mich und uns die nächsten fünf Tage erwartet. Dass ich keinen Plan habe, was ich die nächsten fünf Stunden, geschweige denn die nächsten fünf Tage mit Levi in diesem Zug anstellen soll. Lesen, Musik hören, aus dem Fenster schauen, all das wird nur bedingt mit Levi funktionieren. Und der wacht bald auf. Und dann?
Eine Stunde später sitzen Levi und ich im Zugrestaurant. Ich bin überwältigt von der zwölfseitigen russisch-englischen Auswahl an Speisen und Getränken. Die Reiseführer hatten vor der eher spärlichen Verpflegung im Zug gewarnt. Ich rechne also mit einer eingeschränkten Verfügbarkeit und bilde im Kopf eine Favoritenliste von fünf Gerichten. Zwei Kellnerinnen herrschen über den Restaurantwagen: eine ältere, offensichtlich weisungsbefugte, schwer Beschäftigte und eine jüngere, gelangweilte, grimmig dreinblickende mit Zeitlupensyndrom und ohne erkennbare Aufgabe. Ohne mit der Wimper zu zucken, nimmt die Ältere unsere Bestellung auf.
Außer mir sitzt noch eine Frau um die 45 vor einer Wasserflasche und einem randvollen Glas an einem der Vierertische aus beigem Plastik, die sich rechts und links vom Gang wie in einem altmodischen Klassenzimmer aufreihen. Am vorderen Waggonende eine Bar mit Kasse, am hinteren Ende eine Ausstellung an Süßwaren und Getränkedosen, die man zum Verzehr im eigenen Abteil erwerben kann: Snickers, Cola, Wasser, Gummibärchen, Fünfminutenterrine, Bier. Zwei Männer sitzen am hintersten Tisch und spielen Karten. Levi und ich haben in der Mitte des Waggons Platz genommen, in Fahrtrichtung, und beobachten die vorbeiratternden Birken.
Als unser Frühstück in Form von dampfenden Rühreiern, Brot und Orangensaft vor uns steht und ich zum vierten Mal versuche, die ältere Kellnerin dazu zu überreden, Levis Frühstücksbrei in der Mikrowelle aufzuwärmen, setzt sich die 45-jährige Frau zu uns und möchte die Sache in die Hand nehmen. Aufwärmen, tippe ich in die Übersetzungs-App meines iPhones. Sie nickt, spricht mit der jüngeren Kellnerin, und Sekunden später ergießt sich ein großer Schwall eiskalten Wassers in Levis Teller. Selbst für meinen rechten Oberschenkel reicht der Schwall. Erwartungsfroh schaut mich Ina aus Nowosibirsk unter schweren halb geschlossenen Augenlidern an. Ihre Schwester lebt in den USA , und im Juni haben beide sich in der Dominikanischen Republik getroffen, schließe ich aus Inas Ausführungen auf Russisch, Englisch und Zeichensprachlerisch. Mit zitternder Hand hält sie Levi einen Löffel kalten Wasserbrei vor die Nase. Dieser widmet sich lieber den rosa Plastikblumen, die – so weiß ich aus Peter Flemings Reiseerzählung Mit mir allein * [Peter Fleming: Mit mir allein. Eine Reise nach China , Berlin 1936.] – schon 1933 dort gestanden haben, dem Serviettenspender und dem jetzt ihm gehörenden Rührei. Ina schwenkt um auf 100 Prozent Russisch – zumindest interpretiere ich es so. Ihre Worte werden lauter, ihre Armbewegungen immer ausladender. Viel zu spät kommt mir der Gedanke, dass ihr Glas und die dazugehörige etikettfreie Flasche nicht Wasser, sondern Wodka enthalten könnten. Hilfe suchend blicke ich mich um.
Ina nimmt meine Hand. Tränen stehen in ihren Augen. Die Kartenspieler haben mittlerweile ihre Hemden ausgezogen, Schweiß perlt auf ihren Köpfen, die im Unterschied zu ihren Rücken nur spärlich behaart sind. Ihre Hälse zieren dicke Ketten mit Kruzifix – eines gelb, das andere silberfarben und beide mit glitzernden Steinchen verziert. Ihre weißen Bäuche drücken gegen das Plastiktischchen. Gestenreich wirft der eine seine Karten auf den Tisch, flucht und greift nach dem Plastikbecher vor sich, den ich bis vor wenigen Sekunden noch als Wasserbecher identifiziert hätte – immerhin ist es noch früh am Morgen –, nimmt einen Viertelliterschluck, lacht und winkt mir begleitet von einem Schwall russischer Worte zu. Alarmstufe rot.
In Sankt Petersburg hatte ich schon bemerkt, dass mich viele Menschen – vermutlich aufgrund meiner hohen Wangenknochen und grünen Augen – für eine Russin hielten. Da mir nichts Besseres einfällt, als dämlich zu grinsen, setzt sich der silberne Kartenspieler an unseren Tisch, neben Ina. Er: mindestens 190 Zentimeter groß und fleischige 120 Kilo schwer, mit gerötetem Gesicht, in hellgrauen Dreiviertelhosen, braunen Slippern. Sie: 155
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