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Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Titel: Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Malchow
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Gewissen drohte mich zu verschlingen, also verabschiedeten wir uns von Elena und Peter und eilten ins Hotel.
    Der bedrohliche große Bruder des Glücksgefühls, ein Kind zu bekommen beziehungsweise eines zu haben, war mitgereist: die Angst, dem Kind könnte etwas fehlen. Mit der Freude über den positiven Schwangerschaftstest zog auch die Sorge ein, das Baby möge doch bitte die ersten zwölf Wochen überstehen. Gefolgt von der Angst, bei den diversen Schwangerschaftsuntersuchungen könnten Fehlbildungen festgestellt werden, bei der Geburt könnte etwas mit der Sauerstoffversorgung schiefgehen, bis hin zu den derzeit aktuellen Sorgen: Warum atmet er so seltsam? Warum brüllt er wie am Spieß? Plötzlicher Kindstod? Dabei bin ich eigentlich kein ängstlicher Mensch. Und vor Levi hatte ich nie dazu geneigt, mir die schlimmsten Dinge auszumalen. Warum dann jetzt? Über Levis schlafenden Kopf hinweg diskutierte ich mit Markus, ob ich Levi zu viel zumutete.
    Das Internet wusste, dass Gelbsucht eine Inkubationszeit von zwei bis vier Wochen hat – und somit nichts mit unserer Reise zu tun haben konnte. Das Internet wusste auch, dass Gelbsucht meistens unproblematisch verläuft und mit Ruhe und viel trinken in der Regel hinreichend therapiert sei. Puh.
    Wir nahmen Levi aus dem Maxi-Cosi, legten ihn ins Bett, und innerhalb weniger Minuten war seine Stirn wieder wohltemperiert. Es wurde dunkel, und die Gelbsucht verschwand von Levis zunehmend rosig schimmernder Babyhaut. Erleichtert tranken wir Tee auf unserer Terrasse. Aber ein Stück der Unruhe blieb in meinem Hinterkopf: Wie belastbar ist meine Suche nach unserem Lebensmodell? Wie leicht kann etwas passieren, das mich unser Vorhaben abbrechen lässt?
    Von der Transsib nach Transsibirien
    Sergeis Augen strahlen und weinen gleichzeitig, als er von seiner Frau erzählt. Und auch ich werde wehmütig: Mit einem Boot, am besten einem Frachter oder einem Fischerboot, über die Meere schippern – das möchte ich unbedingt mal machen. Liegt vielleicht an meinen Seefahrergenen – soweit mein Stammbaum mütterlicherseits zurückzuverfolgen ist, waren die Männer ausnahmslos Kapitäne auf den Weltmeeren. Und auch Levi hatte an Bord des Newakreuzers seine Hände an der Reling verkrallt und gebannt auf die Wellen und vorbeifahrenden Schiffe geschaut. Minutenlang. Mit angespanntem Körper und vorgereckter Nase. Vielleicht hat er ja das Fernsuchtgen von mir geerbt, mein kleiner Sohn?
    Jetzt zupft er an meinem Hosenbein, anscheinend braucht er eine Pause. Und so schließe ich die Abteiltür hinter uns, gebe Levi sein Mittagessen – im Wasserbad der Thermostasse aufgewärmte Biopute auf Reis von Hipp –, lese ihm aus einem Bilderbuch vor und betrachte wenig später das entspannte Gesicht meines schlafenden Sohnes. Der ganze Zug ist eine große Babywiege. Es gibt nichts zu tun, außer zu dösen. Ich schaue aus dem Fenster und sehe Birken. Aber diesmal habe ich den Eindruck, dass nicht der Zug an den Birken vorbeirast, sondern die Birken am Zug. Der Zug ist nicht länger reines Vehikel, kein bloßes Verkehrsmittel. Er fühlt sich auf einmal an wie ein eigener Ort. Wie Transsibirien. Wir fahren nicht daran vorbei, sondern sind mittendrin. Transsibirien ist warm und laut. Das gleichmäßige Rattern wie ein entspannter Herzschlag. Es schüttelt mich durch. Sanft, aber permanent. Rhythmisch. So müssen sich Babys im Bauch der Mutter fühlen, denke ich und schlafe ein.
    Als ich aufwache, habe ich Lust auf Bewegung. Da der erste Stopp noch in weiter Ferne liegt und der Zug lang ist, schnalle ich mir Levi in der Babytrage vor den Bauch und laufe in entgegengesetzter Richtung zum Zugrestaurant. Nach der erfolgreichen Durchquerung von zwei weiteren Zweite-Klasse-Waggons stehen wir inmitten eines Dritte-Klasse-Wagens, einer Art Großraumschlafwagen: keine Abteile, achtzig Betten. Die Augen der verantwortlichen Waggonschaffnerin blitzen mich an, und ihre Geste ist eindeutig: Wir müssen zurück.
    Alle Bewohner dieses Waggons sehen russisch aus. Und auch alle Reisende, an denen ich mit Levi vorbeigewandert bin, haben Russisch gesprochen. Niemanden also, den ich nach dem Grund für den eingeschränkten Aktionsradius fragen könnte. Und auch der Reiseführer hatte mich nicht darauf vorbereitet. Levi zeigt mit seinem Finger in die verbotene Richtung und sagt: »Da!« Mit einem imaginären Besen wedelt die Waggonschaffnerin uns endgültig aus ihrem Verantwortungsbereich. Levi fängt an zu weinen, und ich

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