Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
weiß nicht, wie ich ihm erklären soll, dass wir nicht weiter dürfen. Also erfinde ich etwas und sage mit ernster Miene: »Wir dürfen nur bis zum Restaurant laufen, weil sonst zu viele Menschen an unserem Abteil vorbeilaufen würden, und dann könntest du nicht mehr ungestört mit Rita Ball spielen.« Irgendeinen Grund wird es schon geben.
Zurück in der legalen Welt begrüßt die brünette Sonia mich mit einem Lächeln und Levi mit einem Kniff in seine linke Wange. Ritas Oma bietet uns Weintrauben an, und selbst die Mutter der zwei Teenager blickt kurz von ihrem Buch auf und winkt.
Olga kommt zu mir und sagt: »Es ist besser, wenn du hierbleibst!«
»Okay«, sage ich und versuche ihr zu erklären, dass es mit Levi guttut, ein bisschen zu laufen.
Nach zehn Minuten steht Olga wieder vor mir und sagt: »Jetzt ist es doch in Ordnung, wenn du im Zug herumlaufen möchtest!« Und zwinkert mit ihrem rechten Auge.
Die blonde Mitbewohnerin in Ritas Familienabteil schläft auf einer der oberen Pritschen, und Ritas Augen strahlen: In ihren Händen hält sie einen Ball in Melonendesign. Die nächste Dreiviertelstunde sind Levi und Rita in ihr Fußball-Handball-Spiel vertieft. Ganz selten benötigen sie mich als Schiedsrichterin, Balleinwerferin oder Begrenzungspfosten: Die teppichlosen Vorräume zur Toilette und zum Samowar sind tabu. Unsere Mitbewohner stolpern lachend über das rasende Knäuel, und auch unsere Waggonschaffnerin Olga beweist mit Bravour und einem Dauergrinsen im Gesicht, dass sie ihren Pflichten auch über Kinder hüpfend und scharf geschossenen Bällen ausweichend nachzukommen versteht.
Zum Abendessen teilen Levi und ich uns das Zugrestaurant nur mit dem jungen russischen Paar aus der ersten Klasse. Nachdem ich genussvoll die zwölfseitige Speisekarte gelesen habe – von Borschtsch über Wiener Schnitzel bis hin zu Fisch wird wirklich für jeden Geschmack etwas angeboten –, entscheide ich mich für gegrillten Lachs mit Gemüse. Fünfzehn Minuten später stehen der Lachs und das Gemüse dampfend vor uns und schmecken wirklich gut. Aufgrund der Warnungen in diversen Transsibreiseführern habe ich weder mit einer derart großen Auswahl an Speisen noch mit deren tatsächlicher Verfügbarkeit und Schmackhaftigkeit gerechnet.
»In Perm auf dem Bahnsteig werde ich frische Blinis kaufen«, interpretiere ich den russischen Satz von Ritas Oma, der die Worte Perm und Blinis enthält und von ihren aufgerissenen Augen und einer Hand, die über den Bauch streicht, begleitet wird. Levi, der auf meiner Hüfte sitzt und die Oma beobachtet, sagt laut »Mmmhhhhh« und reißt seine Augen ganz weit dazu auf, so wie wir es oft gemeinsam beim Vorbereiten seines Essens machen. Indem ich mit bedauerndem Blick auf meine Uhr zeige, versuche ich ihr zu verstehen zu geben, dass wir erst um Mitternacht im Perm halten und ich da vermutlich den schlafenden Levi zu bewachen habe. Kein Problem, sagt sie mit einer Handbewegung und zeigt auf sich. Super, gebe ich mit nach oben gerecktem Daumen zu verstehen und krame in meiner mit zahlreichen Taschen ausgestatteten Trekkinghose nach Geld. Nach einem Blick darauf schaut Ritas Oma an die Zugdecke und macht eine ausladende Bewegung mit den Armen. Sie greift nach dem Geldbündel in meiner Hand, nimmt sich einen 200-Rubel-Schein und deutet einen dicken Bauch an. Scheinbar kann ich so viel gar nicht essen, wie sie für mein erstes Gebot hätte kaufen können. Oder selbst mit dem kleineren Schein kann ich mir einen Bauch anessen? Wir werden sehen. Dankbar streiche ich über ihren Unterarm. So etwas mache ich in München selten.
Nachdem Levi zufrieden grunzend eingeschlafen ist, stelle ich mich bei offener Abteiltür noch mal auf den Gang und schaue aus dem Fenster in die sternenbeleuchtete Dunkelheit. Die Birken sind nur noch schemenhaft zu erahnen. Das Rattern der Eisenbahn hallt in meinem Körper wider und lässt meinen Kopf zur Ruhe kommen. Das Leben in der Transsib ist wie Konzentrat. Heute hat der Zug eine Berg- und Talfahrt für mich veranstaltet – obwohl die Landschaft draußen schnurgerade an uns vorbeizog.
Ich mag sie sehr, die Russen
» Good night «, sage ich zu Ritas Vater, der in seinem Abteil sitzt. Nur seine Füße und seine Nase ragen auf den Gang heraus. »Gute Nacht«, sagt dieser auf Russisch und: »Perm«, reckt seinen Daumen nach oben und grinst mich an. Der Gedanke, dass er oder seine Mutter mitten in der Nacht auf einem dunklen windigen Bahnsteig von einem müden
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