Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Mütterchen in Blümchenkleid – zumindest sahen die Verkäuferinnen auf den Bahnsteigen in den Reiseführern immer so aus – für Levi und mich dampfende Blinis einkaufen, fühlt sich an, wie nach einem 1200-Höhenmeter-Trekkingtag müde und durchgefroren in die Berghütte einzutreten, in der ein Kaminfeuer brennt, es nach frischem Germknödel duftet und der Wirt eine heiße Schokolade vor dich hinstellt. Oder ein Bier.
Nach 28 Stunden in der Transsibirischen Eisenbahn bestätigt sich, was ich in Sankt Petersburg schon zu spüren begonnen hatte: Ich fühle mich wohl bei den Russen.
Am Flughafen von Sankt Petersburg deutete es sich bereits an: Nach knappen drei Stunden Flug hatte uns die Lufthansa an einer Flughafenbaracke mit kyrillischen Schriftzeichen ausgekippt, und mein erster Gedanke war: Sind wir irgendwo notgelandet? Das Flughafengebäude erinnerte an eine Schuhschachtel mit Patina und passte so gar nicht zu meinen Vorstellungen über das Drehkreuz einer pulsierenden Metropole. Das Innenleben der Schuhbox war auf den ersten äußeren Eindruck abgestimmt: Ich stand mit Levi, dem Kinderwagen, dem Seesack und einem 35-Liter-Rucksack im ersten Stock, die Einreiseboxen befanden sich im Erdgeschoss. Die Rolltreppen funktionierten nicht, ein Lift war nicht vorhanden, und die Menschenschlangen schlängelten sich in mehreren Schleifen vor jeder Box.
»Das wird Stunden dauern«, dachte ich, als ein junger Mann aufsprang und mir in zwei Gängen unser Handgepäck an der wartenden Menschenmasse vorbeitrug und es direkt unter einem der Beamtenfenster abstellte. Er sprach kurz mit dem Geschäftsmann, der eigentlich an der Reihe war, der nickte, und fünf Minuten später standen Levi und ich unter den Ersten am Gepäckband.
Der Taxifahrer war eigentlich Seemann und nun auf Probe an Land geblieben, um seine Ehe zu retten. Er erzählte von den auf See bestandenen Abenteuern und der furchtbaren Enge an Land. Ich erzählte von meinen Seefahrergenen, der vermutlich daher stammenden Liebe zum Meer und zum Unterwegssein sowie von meinem Urgroßvater, der in Sankt Petersburg gelebt hatte. Als Piotr mich vor dem Hotel Europa ablud, fühlte es sich an, wie nach einer langen Reise nach Hause zu kommen. Valentina begrüßte uns wie alte Freunde, schenkte Levi einen Hotel- Europa -Bären und empfahl uns einen kinderwagentauglichen Spaziergang entlang des Lebyazhyey-Kanals bis hin zur Troizki-Brücke mit Blick auf das Fort Peter und Paul. Sie empfahl uns, in der von Russen viel besuchten Hotelbar etwas zu trinken, am frühen Abend mit dem kleinen hölzernen Hotelboot eine Runde durch die Kanäle zu drehen – um einen schönen ersten Eindruck zu bekommen – und später in der Kaviarbar gegenüber etwas zu essen. Als ich gegen 21 Uhr mit dem schlafenden Levi im Maxi-Cosi in dem edlen Restaurant einlief, das ich mit Paaren und einer größeren Gesellschaft teilte, bekam ich einen großen Tisch vor einem riesigen Spiegel mit Blick auf die Violinisten und die Sängerin, die unserem Auftaktessen eine feierliche Note verliehen. Und eine Wodkaverköstigung auf Kosten des Hauses, die mein Kellner mit der Frage nach meinem Lieblingswodka einleitete, wobei er mich auf meine Antwort »Grasovka und Belvedere« hin milde anlächelte: »Jetzt lernen Sie Wodka kennen, meine Dame.«
Als ich mich am nächsten Tag mit Levi in der Babytrage vor dem Bauch auf eine Erkundungswanderung zwischen Eremitage, Mariinski, Sankt-Isaaks-Kathedrale und der an Wien erinnernden Kaffeehaustradition begab, wurden wir mindestens zwölfmal auf Russisch angesprochen. Fünfmal verstand ich, dass ich nach dem Weg gefragt wurde, aber nicht, wohin, und konnte keine Auskunft geben. Die anderen sieben Male hatte ich keine Ahnung, was der Fragensteller von mir wollte. Alle waren sie jedoch überrascht, dass ich keine Russin bin. Ob das an Levi oder an meinem Gesicht lag, konnte ich leider nicht fragen. So oder so fühlte es sich aufregend und entspannend zugleich an, in den Augen der Passanten zu dieser Stadt zu gehören. Als ich mich nach dem Besuch des leider geschlossenen Mariinskitheaters, dem Besteigen der Kathedrale des heiligen Isaaks und einer ausgedehnten Pause im W Hotel , in dem sich die kreative Szene Petersburgs mit einer internationalen Gästeschar mischt, auf dem Rückweg zu unserem Hotel zu weit rechts hielt und immer tiefer in ein zunehmend verfallen wirkendes Viertel eindrang, stieg die Zahl derer, die uns anstarrten und ansprachen, rapide an, sodass ich
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