Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
mich spontan entschloss, der wie eine Rettungsboje aus dem grauen Straßenmeer herausragenden Kneipe einen Besuch abzustatten.
»Priviet« , rief ich in die Runde stark geschminkter Frauen mit Röcken, so kurz, dass sie den Namen eigentlich nicht verdienten, und Schuhen von mindestens zwölf Zentimetern Höhe. Sie liefen darin so trittsicher wie ich in meinen Wanderschuhen zur Meilerhütte. Sie teilten sich den Laden mit angegrauten Männern in Arbeiterkleidung. An einigen wenigen Tischen saßen junge Paare, die ich für Studenten hielt, was mich beruhigte. Ich bestellte einen Tee für mich und bekam noch ein Glas Milch für Levi dazu. Das Ambiente erinnerte an Sankt Pauli, und ich fragte mich, ob ich hier in einem Etablissement gelandet war. Ich fand es abschließend nicht heraus, dafür aber eine Führerin, die uns, als sie mich meinen Stadtplan studieren sah, mit einer Geste fragte, wohin wir denn wollten. Ich zeigte auf die Auferstehungskirche, auf die ich von unserem Zimmer blickte, sie holte sich eine Jacke, und wir brachen auf. Wir gaben sicher ein lustiges Bild ab: ich in meinen flachen Sneakern und Levi vor dem Bauch und sie in High Heels mit Pomanschette. Wobei ich mich schwertat, mit ihren langen Beinen Schritt zu halten. Fünfzehn Minuten später nahm sie mich zum Abschied in den Arm und verschwand mit einem Anflug von Lächeln in der Menge.
Diese Mischung aus selbstverständlichem menschlichen Miteinander, herzlicher Hilfsbereitschaft und einer Serviceorientierung, deren Natürlichkeit nichts mit der oft ein wenig devot wirkenden asiatischen Beflissenheit oder dem professionell-leeren Lächeln, gepaart mit Standardfloskeln, unserer nordamerikanischen Freunde gemein hatte, beeindruckte mich tief. Die durchweg freundschaftlichen Begegnungen entfachten in mir nach nur drei Tagen in Sankt Petersburg ein zartes Gefühl von Vertrautheit.
Die russische Meisterschimpferin
Auch nach der zweiten Nacht in der Transsib wache ich vor Levi auf und kann mich entspannt in unserem Abteil frisch machen. Für einen Tag, der einen besonderen Höhepunkt bereithält: Nachdem wir planmäßig um Mitternacht Perm und unplanmäßig Jekaterinburg gegen sechs Uhr früh verschlafen haben, steht gegen 19.30 Uhr Omsk auf dem Fahrplan. Ich putze mir also die Zähne, spüle die Zahnpasta mit einem Schluck Samowarwasser herunter, säubere mich mit Feuchttüchern und einem in Samowarwasser eingetauchten Handtuchzipfel, wasche meine Haare unter Zuhilfenahme einer blauen Spraydose Trockenshampoo und lache mir in dem Spiegel, der unterhalb der oberen Pritsche angebracht ist, entgegen. Im Gegensatz zu gestern weiß ich heute, wie Levi und ich den Tag gestalten werden. Und darauf bin ich stolz. Und was sich noch besser anfühlt: Ich bin aufgeregt, aber nicht mehr ängstlich aufgeregt. Ich kann es nicht erwarten, dass Levi aufwacht und er beginnt: unser Tag 3 in der Transsibirischen Eisenbahn.
Der letzte Bissen meines Frühstücks ist noch nicht geschluckt, als uns die ältere Kellnerin aus dem mit Jugendlichen in Tarnanzügen randvollen Zugrestaurant wedelt. Eigentlich wollte ich, wie gestern, mit Levi noch eine Weile im Zugrestaurant Menschen beobachten, auf englischsprachige Mitreisende warten oder mit wodkatrinkenden Russen Karten spielen. Levi beobachtet auch gerne Menschen. Als er vier Monate alt war, hat mich der nette Tengelmann-Mitarbeiter hinter der Fischtheke verunsichert gefragt, warum mein Baby ihn so anstarre.
Kaum sind wir aufgestanden, sitzen auch schon vier der Tarnanzugjungs an unserem Tisch. Vielleicht eine Eliteausbildungstruppe des KGB ?
Gedankenversunken öffne ich die erste der zwei Türen, die den Restaurantwagen vom Erste-Klasse-Abteil in Richtung Waggon 7 trennen, stehe im scheppernden Zwischenraum und blicke nicht mehr ganz so ängstlich wie gestern auf die vorbeirasenden Gleise. Levis Beine umschlingen meine Hüfte etwas fester, und seine Hände krallen sich an meiner Schulter fest. Seinen Kopf schiebt er neugierig nach vorn, um den Boden zu beobachten. Ich hüpfe über das nur von zwei schmalen Metallteilen zusammengehaltene Nichts und drücke den gelb blinkenden Knopf auf der gegenüberliegenden Seite.
Und es geschieht nichts.
Ich drücke erneut. Wieder nichts.
Die Tür geht einfach nicht auf. Dafür schließt sich die erste Tür, und wir sind gefangen in ohrenbetäubendem Rattern und Scheppern. Und einem ungemütlich verwirbelten Fahrtwind. Levis Klammergriff wird fester, seine Unterlippe beginnt zu
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