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Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Titel: Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Malchow
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zittern, seine Augen suchen meinen Blick. Passt schon, lächle ich ihm entgegen, wir bezwingen das scheppernde Metallmonster! Nach dem 53. Versuch werde auch ich nervös, überlege, ob ich die KGB -treue oder von Muttergefühlen getriebene Kellnerin um Hilfe bitten soll, entscheide mich aufgrund unserer Gläschenaufwärmpleite von gestern dagegen und versuche es ein 54. Mal. Mit einem raumschiffenterprisemäßigen Zischen öffnet sich die Tür, und wir hüpfen hinüber ans sichere Ufer. Statt Jubel, schwenkenden Fahnen oder zumindest einer euphorischen Umarmung begrüßt uns die jüngere Kellnerin mit einem grimmigen Gesicht und einem Schwall tendenziell nicht gut gemeinter Worte. Sie hält eine Zigarette in der einen und einen Schrubber in der anderen Hand. Den neben ihr platzierten Wassereimer haben wir bei unserem lebensrettenden Sprung nicht umgeworfen. Sie will, dass wir zurückgehen, in den Zwischenraum. Nein, schüttle ich den Kopf. Aber sie will uns nicht über den frisch gewischten Boden laufen lassen. Mit einer Hand zupft sie bestimmt an meinem rechten Arm, mit dem ich Levi halte. Mit einer abrupten Drehung nach links schüttle ich ihre Hand ab und stapfe über den jungfräulichen Boden, ohne Spuren zu hinterlassen, aber begleitet von einer Schimpfattacke, die sogar das Rattern des Zuges übertönt. Wie vom Blitz getroffen, bleibe ich stehen, drehe mich um und blicke auf das Namensschild meiner wutverzerrten Gegnerin – Yulia. Auch das noch. Zu mehr Gedanken kommt mein Kopf nicht, denn Yulia brüllt und schimpft wieder los.
    Über die Besonderheit des Schimpfens im russischen Kulturkreis – dass es oft vorkommt und manchmal sogar liebevoll gemeint sein kann, und auch, dass Russen oft grimmig dreinschauen und sich die freundlichen Gesichter für Familie und Freunde aufheben sollen – hatte ich gelesen. Nun aber tatsächlich mit einer Meisterin des russischen Schimpfens und Grimmigdreinschauens konfrontiert zu sein bringt mein Blut zum Kochen. Mein Verstand sagt: Sie schimpft sehr laut und meint das bestimmt ganz besonders nett! Der Rest von mir findet das nicht überzeugend, und so brüllt mein Mund zurück. Auf Deutsch. Laut. Und nicht nett.
    Immer noch erschrocken über mich selbst sitze ich wenig später im Abteil mit den Plätzen 21, 22, 23 und 24 und esse zur Beruhigung und auf der Suche nach meiner rosaroten Transsibbrille einen Schokoladenriegel.
    25 Minuten
    Draußen wartet Rita, mit einer gelben Handtasche mit Glasperlengriff in der Armbeuge und Plastikkakerlaken in den Händen. Sie würdigt Levi keines Blickes. Also drücke ich ihm sein Wer brüllt denn da -Buch mit echten Tierstimmen in die Hand. Levi bringt die Löwenmutter zum Brüllen, und das Eis ist gebrochen. Fast zwei Stunden lang toben Rita und Levi durch den Gang. Einige der Mitreisenden feuern die beiden an oder schlichten einen aufflackernden Streit, andere bieten ihr Abteil als Halbzeitpausenraum an. Einmal zückt Ritas Oma ein Taschentuch, putzt Levi die Hände, und wir lachen uns an. Als Levi zum ersten Mal mit Rita Sonias Abteil ansteuert, zögert er kurz auf der Schwelle, um dann, ermutigt von Sonias melodiösen russischen Worten und meinem unterstützenden Lachen, auf allen vieren krabbelnd in ihrem Abteil zu verschwinden. Nach einer Stunde haben Rita und Levi allen Reisenden des Waggons Nummer 7 einen ausgiebigen Besuch abgestattet und sind hungrig. Und so lade ich auf Englisch und Zeichensprachlerisch Ritas Familie und Katharina, die junge Frau mit den melancholischen Augen, die in Ritas Abteil wohnt, zu einem Mittagessen mit dem in Perm erstandenen Berg aus Blinis ein. Ich lege das geöffnete Paket mit den noch lauwarmen gerollten Teigtaschen, die aussehen wie eine Mischung aus überdimensionierten Frühlingsrollen und etwas zu klein geratenen handgerollten Pfannkuchen, auf den Tisch. Ritas Oma steuert Käse, Salami und Äpfel bei, Katharina eine Tüte Orangensaft und Sergei Chips. Alle greifen sich zuerst einen Blini. Als ich in meinen hineinbeiße, tropft eine dicke Flüssigkeit heraus: der Saft der Käse-Gemüse-Füllung. Katharina reicht mir eine Serviette und sagt: »Mmmmmmh.« Levi antwortet routiniert. In meinem Mund vermischen sich der lockere Teig mit der samtigen, scharf gewürzten Masse zu einem einfach guten Gefühl. Mit interessiertem Blick folge ich der russischen Unterhaltung, lache, wenn die anderen lachen, und schaue aus dem Fenster, wenn die anderen schweigen. Levi wandert von Schoß zu Schoß, bis ihm

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