Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
die Augen zufallen und wir uns in unser Abteil verabschieden.
Nach unserem Mittagsschlaf, einer zweiten Spielrunde mit Rita und einem ereignislosen Abendessen im Zugrestaurant treffen wir bei unserer Rückkehr Katharina auf ihrem Hocker im Gang an, mit einem Notenblatt auf dem Schoß. Sie spielt mit halb geschlossenen Augen Luftklavier. »Eine Pianistin«, denke ich. Bisher wusste ich von ihr nur, dass sie wie wir in Irkutsk aussteigt. Dass sie Pianistin ist, passt zu ihrer melancholischen Erscheinung, die sich zu entziehen scheint, selbst wenn man sie nicht zu erfassen trachtet.
Ich stelle mich an das unserem Abteil gegenüberliegende Fenster, mit Levi auf der Hüfte, und schaue abwechselnd aus dem Fenster und auf Katharina, bis plötzlich im Rest des Waggons Aktionismus ausbricht: Jacken werden angezogen, Rita bekommt Mütze und Schal übergestülpt, Gepäckstücke werden verstaut und die Badelatschen gegen Strümpfe und Schuhe getauscht. Alle drängen in den Gang, und Olga beginnt, gehüllt in eine neue Uniform mit Abzeichen, Sternchen und Streifen, Krawatte und Schiffchenhut, die Abteile von außen zu verschließen. Die Birken lichten sich im Abendrot und geben den Blick auf Häusersiedlungen frei. Reflexartig ziehe ich, obwohl das Thermometer über der Tür warme 25 Grad plus anzeigt, meine Softshelljacke und eine Mütze an, stopfe Levi in den eigentlich für mögliche Kälteeinbrüche am Baikalsee oder in der Mongolei mitgebrachten Fleeceanzug und schlüpfe, kurz bevor der Zug hält, wieder hinaus auf den Gang. Der Trubel ist so groß, dass ich gar nicht versuche, herauszufinden, wie lange wir in Omsk Aufenthalt haben. Der neben meinem Abteil hängende Fahrplan gibt darüber vermutlich Auskunft – aber in für mich unverständlichen Hieroglyphen. Die mahnende Stimme der Transsibreiseführer kommt mir in den Sinn: Die Züge fahren ohne Vorwarnung einfach ab, und es ist empfehlenswert, sich bei einem Halt in Sichtweite zum Zug aufzuhalten und alle wichtigen Dokumente und etwas Geld mit sich zu führen. Falls man doch die Weiterfahrt verpassen sollte.
Olga schließt auch unser Abteil ab und beeilt sich, zum vorderen Ende unseres Waggons zu gelangen, öffnet die schwere Metalltür und steht freundlich-kompetent lächelnd und mit wachsamen Augen auf dem mit weiß-grauen Kacheln verzierten Bahnsteig von Omsk.
Als ich mit Levi in der Babytrage als Letzte aus unserem Waggon hüpfe, lächelt sie mir zu und sagt: »25 Minuten.« Auf Deutsch.
»Du sprichst Deutsch! Hättest du ja auch früher sagen können!«, lache ich ihr entgegen.
Auf Olgas Gesicht zeichnet sich ein Fragezeichen ab. »Von Schule«, sagt sie. Und: »Nicht gut.«
»Doch«, sage ich, »sehr gut!«, und tauche euphorisiert in das Getümmel vor uns ein, während Olga unseren Waggon Nummer 7 vor unerwünschten Eindringlingen bewacht.
In den weißen Kacheln des Bahnsteigs spiegelt sich das rot-lila Abendlicht und taucht die Kioske mit ihren Fünfminutenterrinen, Salamiwürsten, Colaflaschen, Schmierkäsen und den kilometerlangen Menschenschlangen in Jogginghosen, bunten Mützen oder Kopftüchern in die pudrig-unwirkliche Atmosphäre einer Rosamunde-Pilcher-Szene mit einer Prise Nachkriegscharme.
Da ich keinen Hunger verspüre und unsere 25 Minuten Freigang nicht mit Anstehen mit unklarem Ausgang – Kommen wir dran? Gibt es dann noch was? – vertrödeln möchte, schlendern wir auf der Suche nach Blini- oder Apfelverkäuferinnen und anderen nicht-russischen Reisenden Richtung Bahnhofsgebäude: ein mit Kassettenfenstern aus Stahl verzierter mintgrün-weißer Prachtbau mit schnörkeligen Balkongeländern und runden Straßenlampen davor, die rosafarbenes Licht spenden. Ich hatte mich eher auf herben Industriecharme mit viel Patina eingestellt und sehe mich nun überrascht von der Ausstrahlung des Seebads Brighton, gepaart mit dem unwirklichen Charme eines Zarenmärchens. Nur der Wind passt nicht zum Ambiente: Er ist rau und sehr kalt.
Suchend blicke ich zurück, um die Entfernung zu unserem Waggon mit den verbleibenden Minuten abzugleichen, als Olgas Blick mich trifft: ernst und konzentriert. Kurz bevor ich mit Levi das Bahnhofsgebäude betrete, drehe ich mich nochmals um und schaue betont unauffällig in die Richtung unseres Waggons Nummer 7. Olgas Blick ist auf uns geheftet. Als sie merkt, dass ich es merke, schaut sie weg. Kurz.
So bewacht bewundern wir für eine Minute das mit einem silbrig glänzenden Kronleuchter von mindestens drei
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