Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Metern Durchmesser geschmückte Bahnhofsgebäude von Omsk und schlendern, unsere letzten Minuten aufbrauchend, den Zug entlang. Reisende in sportlicher Kluft stehen vor ihren Waggons, Gruppen von neuen Fahrgästen checken in Sonntagsgarderobe bei den Waggonschaffnern ein. Eine Frau mit zerfurchtem Gesicht und geblümtem Kleid mit passendem Kopftuch feilscht mit einer Reisenden um den Preis für Äpfel. Nach einigem Hin und Her wechselt ein prall gefüllter Kartoffelsack den Besitzer. Gleich daneben bietet ein Mann mit gebeugtem Rücken in ausgeblichenen Arbeiterlatzhosen und fast zahnfreiem Mund Blinis an. Offensichtlich gibt es viel über die Blinis zu erzählen, denn eine Teenagerin führt ein intensives Gespräch mit dem Verkäufer, bevor Geld und dampfendes Päckchen den Besitzer wechseln. Und dann sind wir an der Reihe.
Mit vier Fingern gebe ich ihm die gewünschte Menge zu verstehen. Die russische Antwort verstehe ich nicht. Aber da er keine Anstalten macht, meine Blinis einzupacken, zeige ich erneut auf meine vier Finger, dann auf die Blinis und lächle dazu. Jetzt erst scheint der Zahnlose zu bemerken, dass ich kein Russisch verstehe. Er lacht mich breit an, seine eben noch leeren Augen fangen an zu blitzen. Er wickelt seinen kompletten Bestand – sieben Blinis – zu einem festen Paket und drückt sie mir in die Hand. Ich schaue auf die Uhr. Noch fünf Minuten, höre ich Olgas Stimme, ohne dass sie es aussprechen müsste. Ich gebe ihm 200 Rubel, so viel, wie Ritas Oma von mir für die Blinis gestern genommen hat, und werde von einem jammernden Schwall russischer Worte überrollt, die der Zahnlose mit traurigem Blick über mir auskippt. Die ersten Zuschauer finden sich ein.
Da ich möglichst schnell in den Zug zurückwill, ist es mir egal, ob der Mann das Geschäft seines Lebens mit mir macht oder nicht. Hektisch krame ich in meiner Trekkinghose mit den tausend Taschen nach weiterem Geld. Jetzt bloß nicht das Bündel mit den großen Notfallscheinen erwischen, denke ich, als sich die Teenagermama aus unserem Waggon neben mir aufbaut, meinen Arm sanft, aber bestimmt aus meiner Hosentasche herauszieht und mein zahnloses Gegenüber beschimpft, als hätte er mir ein unmoralisches Angebot gemacht. Dieser verfällt in eine Schmollstarre, mit einem Gesichtsausdruck, der mich an Rita erinnert. Ich versuche, dem armen Mann den doppelten Preis von gestern zuzustecken, was der Teenagermutter nicht entgeht. Mit großen Augen schaut sie mich an, entreißt dem zahnlosen Delinquenten einen der zwei Scheine, drückt ihn mir in die Hand und watschelt Richtung Waggon Nummer 7 davon. Auf halber Strecke dreht sie sich um und gibt mir mit einer energischen Winkbewegung eindeutig zu verstehen: Wo bleibst du denn? Irgendwie scheinen Mütter in Sibirien zusammenzuhalten.
Auf den letzten Metern zurück zu unserem Waggon lacht mir eine fünfköpfige Gruppe junger Männer entgegen. Die fünf suchen das Gespräch mit Levi. » Malinki, malinki «, sagen sie; ein Wort, mit dem fast jeder Russe Levi bisher angesprochen hat und das »klein« bedeutet. Mein Bedarf an interkultureller Kommunikation ist jedoch erst einmal gedeckt. Ich möchte zurück in unseren Waggon. In unser Abteil. Unser Nest. Jetzt. Sofort.
Freundlich winke ich den fünf Männern zu, drehe mich um, bleibe kurz bei einer Äpfelverkäuferin stehen, strecke ihr einen 100-Rubel-Schein entgegen, nehme mir fünf Äpfel aus ihrem Korb – verschrumpelt wie große Pflaumen und süß duftend –, frage »Da?« , ernte ein Nicken und klettere mit Levi unter Olgas Adleraugen zwei Minuten vor der planmäßigen Abfahrt zurück in unser Zuhause auf Zeit.
Aus dem bisher verwaisten linken Nachbarabteil tönen Geräusche zu uns herüber: Menschen, die Gepäck hin und her räumen, vermute ich. Wer da wohl eingezogen ist? Und für wie lange es wohl unsere Nachbarn bleiben?
Für heute lasse ich Müdigkeit über Neugier siegen und beginne mit Levis Zubettgehroutine: Ich ziehe ihn aus, wasche ihn mit Feuchttüchern und einem nassen Handtuchzipfel, ziehe ihm den Schlafanzug an, putze seine zweieinhalb Zähne – wie lange putzt man zweieinhalb Zähne? –, erzähle Geschichten aus einem Bilderbuch. Gerade beginne ich, die Höhepunkte unseres sich dem Ende zuneigenden dritten Tages in der Transsibirischen Eisenbahn Revue passieren zu lassen, als ein unbekanntes Rattern und Scheppern an unsere Ohren dringt. Neugierig recke ich meinen Kopf und schaue den Gang hinunter. Auch Levi ist
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