Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
wieder hellwach.
Vor dem Abteil der Teenagermutterfamilie steht ein silberfarbenes Wägelchen. Beladen mit Schokolade, Joghurt, Fünfminutenterrinen, Wasser, Cola und Kaffee. Als die Verkäuferin aus dem Abteil tritt, erstarre ich kurz: Es ist Yulia. Mit Strichlippenmund und der Ausstrahlung einer zu lebenslanger Haft Verurteilten. Levi rudert sich mit seinen Armen aus der Horizontalen auf meinen Schoß und beobachtet nun ebenfalls mit weit aufgerissenen Augen die Szene auf dem Gang. Als Yulia den quietschenden Wagen in Bewegung setzt, zieht Levi den Kopf vor Schreck ins Abteil zurück, um ihn wenige Augenblicke später wieder herauszustrecken. Ich suche und finde Yulias Blick, einen Moment herrscht Stille wie vor einem Duell, bei dem sich die beiden Kontrahenten auf einem staubigen Marktplatz gegenüberstehen: Wer zieht zuerst?
Doch statt einer Pistole zückt Yulia einen Kaffeebecher, schüttet ihn randvoll und hält ihn mir unter die Nase. Mit dem Anflug eines Lächelns. Ich nehme den Becher, obwohl Kaffee das Letzte ist, was ich so kurz vorm Schlafengehen benötige, kaufe noch einen Joghurt und eine Tafel russische Schokolade und zahle, ebenfalls mit einem dezenten Lächeln. Yulias Gesicht reißt auf wie der Himmel über Barcelona nach einem dieser gefürchteten Nebelsuppentage. Auf ihrer bisher fahlen Haut breitet sich ein von Sommersprossen durchzogener Glanz aus, ihre blauen Augen beginnen zu leuchten, und ich bemerke eine störrische Haarsträhne, die aus dem streng nach hinten gekämmten und zu einem festen Zopf zusammengebundenen Haar heraussteht. Ihre Mundwinkel hüpfen nach oben, und über »Malinki, malinki« hinaus verstehe ich nur Bahnhof. Sie zwickt Levi in die Wange, der dies mit einem erfreuten Quieken kommentiert und ihr noch hinterherschaut, als sie schon längst im nächsten Waggon verschwunden ist.
Ich verstehe sie nicht immer, die Russinnen. Aber ich mag sie.
Geht echte Kommunikation nur ohne Worte?
Jetzt sitze ich schon eine ganze Weile in der ratternden Dunkelheit unseres Abteils und beobachte meinen schlafenden Sohn. Auch heute haben wir wieder viel miteinander geredet, obwohl er außer Mama, Papa und Dadadaaat keine Worte zu unseren Gesprächen beitragen konnte. Dennoch höre ich nicht auf, mit ihm zu reden. Natürlich um ihm zu helfen, sprechen zu lernen. Aber auch, weil ich spüre, dass er mich versteht. Auch Levi spricht mit mir. Mit Händen und Füßen. Mit Lachen oder Unmutsäußerungen. Mit Blicken, Gebrabbel und Bewegungen: weggehen zum Beispiel. Oder sich ganz nah an mich kuscheln. Oder mit wachen Augen, die genau beobachten, was ich als Nächstes mache.
Und wir verstehen uns.
Ganz ähnlich funktioniert der Austausch mit unseren russischen Mitreisenden. Ich weiß relativ genau, was Ritas Mutter in Sankt Petersburg macht. Sergei hat es mir auf Russisch und mit seinen Händen erzählt. Und dass er sie vermisst und bewundert. Ich habe es in seinen Augen gesehen. Ich weiß, dass Ina aus Nowosibirsk gerne das Leben ihrer Schwester führen würde und wie dieses Leben aussieht. Sie hat es mir auf Russisch erzählt. Eine Sprache, in der ich mir bisher hier in der Transsib einen Wortschatz von rund zehn Begriffen erarbeitet habe. Optimistisch geschätzt. Ich weiß, dass das Herz Katharinas für die Musik schlägt. Ich habe es gesehen. Und dass sie darauf wartet, dass sich etwas ändert in ihrem Leben. Das habe ich gespürt.
Liegt es an der Transsib, dass mir die Menschen hier schon nach drei Tagen so vertraut erscheinen? Oder daran, dass wir alle Levianisch miteinander sprechen? Und ich mir dadurch selbst näherkomme? Vielleicht hilft mir der Austausch mit einem Gegenüber, mit dem ich keine gelernte Sprache teile, für mich selbst Antworten zu finden?
Oder liegt es daran, dass Levi unser Bindeglied ist? Levi hatte mich am ersten Morgen in der Transsibirischen Eisenbahn dazu gebracht, die Abteiltür zu öffnen und mich auf die Welt vor unserem Nest einzulassen. Levi hatte den ersten Kontakt zu Rita geknüpft. Alle Waggongenossen hatten mich zuerst auf Levi angesprochen. Oder ich hatte Levi aus ihren Abteilen hinausgeholt, und wir waren dabei ins Gespräch gekommen.
Levi merkt, dass unsere Mitreisenden andere Worte benutzen als ich. Dass Gespräche zwischen ihnen und mir anders ablaufen, als er es von zu Hause gewohnt ist. Er beobachtet, wie ich mit Händen und Füßen spreche. Er lacht mit mir, wenn ich mal wieder scheitere mit meinen Kommunikationsversuchen und mich auf
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