Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
noch weiter. In die Mongolei und nach Peking«, sage ich mit fester Stimme, schlage meine Beine übereinander, um sie dann doch wieder parallel nebeneinander zu platzieren. Ich rutsche auf meinem kleinen Hocker hin und her, um wieder eine bequeme Sitzposition zu finden. Irgendetwas zwickt mich.
»Aber warum?«, fragt Olga.
»Ich muss einfach reisen«, sage ich. »Und um herauszufinden, ob ich mit Levi noch reisen kann. Auf meine Art.«
Olga schaut auf den schlafenden Levi und hebt ihren nach oben gereckten Daumen: »Leeeeevi!«, sagt sie, und ich bin stolz auf meinen Sohn.
»Daaa« , sage ich. »Ich bin auf der Suche. Nach einer passenden Welt für Levi, Markus und mich. Für zu Hause. In München. Reisen hilft mir, mich zu spüren. Unabhängig von den Meinungen anderer.« Ich bemerke ein Runzeln auf Olgas Stirn. »Auf Reisen bin ich mutiger als zu Hause«, sage ich, obwohl ich ahne, dass sie mich nur zum Teil versteht. Mein Herz pocht, meine Hände kribbeln, und meine Nase reckt sich etwas nach vorn, Richtung Olga.
»Mutig!«, sagt Olga und zeigt auf mich. Das Stirnrunzeln ist verschwunden. Sie zeigt auf Levi und sagt: »Auch mutig!« und lacht. Wir stehen auf und umarmen uns. »Bis morgen!«, sagt sie, auf eine Art, die morgen die Lösung aller Grübelei verspricht, und zieht sich zurück in ihr kleines Angestelltenabteil gegenüber dem Samowar.
Ich schließe die Abteiltür hinter mir. Das Rattern ist auf einmal lauter. Fast unerträglich laut. Vielleicht liegt das am Streckenabschnitt. Vielleicht ist der renovierungsbedürftig? Levi scheint es nicht zu stören. Er schläft.
Leider. Ich würde jetzt gerne mit ihm kuscheln. Sein zufriedenes Glucksen oder auch die Erfülltheit, mit der er »Mama« sagt, hören.
Levi weiß nicht, warum wir hier sind. Dass das Leben im Zug endlich ist. Ob und wann wir nach München zurückkehren. Er weiß nicht, ob und wann wir Markus wieder treffen. Und auch nicht, wohin wir reisen und warum. Natürlich denkt er nicht so. Denke ich. Er denkt nicht: von Sankt Petersburg mit der Transsibirischen Eisenbahn an den Baikalsee. Weiter durch die Mongolei bis nach Peking und dann zurück nach München. Er denkt nicht an die Vergangenheit. Oder an die Zukunft. Er vertraut mir. Aber darüber hinaus: Wie erlebt er unsere Reise wohl?
Denkt er: Die erste Wohnung war größer? Oder: Hier sind mehr Leute zum Spielen! Oder denkt er ohne Vergleiche: Ich will mit Rita spielen! Und: In diesem Gang kann ich super dribbeln, denn ich verliere den Ball nicht. Oder: Jetzt krabble ich mal bei Olga vorbei!
Transsib, das ist für Levi 24 Stunden mit mir wohnen und schlafen auf engem Raum. Das sind viele neue Menschen, die alle liebevoll mit ihm umgehen, viel Zeit haben und geduldig sind. Anders aussehen und sprechen als die Menschen zu Hause. Transsib bedeutet für Levi Freiraum, denn auf diesem engen Raum lasse ich ihn allein zu den Nachbarn losziehen. Das geht zu Hause nicht. In München findet er hinter jeder Ecke Spielzeug, in der Transsib findet er Menschen, die so »sprechen« wie er.
Er fragt sich nicht: Will ich hier sein? Oder: Das ist ja anders als sonst! Er zuckt auch nicht zurück. Das Neue ist für ihn normal, weil er alles zum ersten Mal erlebt. Er begreift das, was wir erleben, als seine Spielwiese. Als seine tägliche Dosis Lebenserfahrung. Und das ist sicher intensiv. Denn: Die Spielwiese Transsib ist kein plüschiges Kinderzimmer, sondern ein Abenteuerspielplatz.
Tränen kullern über meine Wangen. Olga hat recht: Mein Sohn zu sein erfordert Mut. Und eines ist nach diesen ersten Tagen unserer Reise sicher: Mutig ist er, mein Sohn.
Gerne würde ich jetzt Olga noch einmal in den Arm nehmen. Oder mich von ihr in den Arm nehmen lassen.
An Schlaf ist nicht zu denken. Was mich gleichermaßen fasziniert und beunruhigt, ist, wie stark Levi seine Umgebung über mich wahrnimmt. Wie in dem Moment, als wir kurz zwischen den Waggons gefangen waren: Ein beruhigender Blick von mir, und alles war gut. Levis Welt scheint derzeit fast ausschließlich aus dem zu bestehen, was ich zulasse. Mehr noch: Er nimmt das, was ich zulasse, auch noch über mich wahr, über meine Reaktionen, Bewertungen und Gefühle. Dennoch spüre ich, dass er sich mit jedem Tag auch Freiraum und Unabhängigkeit erkrabbelt. Eine eigene Welt. Eine eigene Weltsicht.
Er hat heute, als ich genervt von Yulia und meiner Reaktion im Abteil geschmollt habe, irgendwann für sich entschieden, dass er nun raus möchte. Auf den Gang. Zu
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